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Entwicklungsstufen

Um die für Topleistungen notwendigen Trainingsumfänge zu schaffen und ohne kurz oder langfristige gesundheitliche Gefährdungen auszukommen, wird ein Aufbau in Stufen über mehrere Jahre benötigt. Dieser Aufbau soll im Sinne eines Entwicklungsprozesses zielbestimmt und gesteuert sein. Im Hinblick sowohl auf die Bereitschaft, als auch zur Fähigkeit Leistung zu erbringen, gibt es aufeinander aufbauende Etappen mit inhaltlichen Akzentuierungen (J. Weineck, 2007).
Das Nachwuchstraining zu Beginn soll dabei nicht auf Höchstleitungen ausgerichtet sein, sondern die Voraussetzungen dafür schaffen, indem bestimmte Fertigkeiten zur richtigen Zeit entwickelt werden. Es ist kein reduziertes Erwachsenentraining, sondern soll sich individuell am (biologischen) Alter, den Trainingsjahren (am Trainingsalter) und an den dazugehörenden physiologischen und psychologischen Entwicklungsstufen sowie an den jeweiligen Umweltbedingungen orientieren. Durch priorisierende quantitative Abwägungen können die situativ lohnend trainierbaren Inhalte betont werden. Die konzeptionelle Vorbereitung auf zukünftige Anforderungen soll dabei immer im Blick bleiben. So findet auch die technisch-taktische Vermittlung perspektivisch statt.
Die Entwicklungsstufen dauern jeweils mehrere Jahre, in denen sich der Köper und der Geist der Para Sportler individuell verändert und sich auch an die steigende Trainingsbelastung unterschiedlich (ggf. auch je nach Behinderung unterschiedlich) anpasst. Quereinsteiger mit Vorerfahrungen aus anderen Sportarten setzen die Entwicklungsstufen mit dem Trainingsalter in Verbindung und ordnen sich so für ihre individuellen Pläne ein.
Prognosen zur Karriereentwicklung oder zu starke Ableitungen für das Training aus Wettkampfergebnissen sind in jungen Jahren mit Vorsicht zu betrachten, da sie abhängig sind von vielfältigen Faktoren wie bspw. dem spezifischen Training, dem Talent und früherer oder späterer Reife (Schwirtz, Zipfel, Kösel, & Hottenrott, 2010).
Für den langfristigen Trainingsaufbau ist besonders viel Erfahrungswissen von Experten notwendig. Gute Trainer kombinieren wissenschaftliche Erkenntnisse mit ihren Erfahrungswerten aus der Praxis.

Wissen aus Theorie und Praxis für die Trainings-Lehre nach (Hohmann et al., 2020).

Unumstritten im Para Skilanglauf und Para Biathlon ist die Notwendigkeit der Umsetzung von hohen Wiederholungszahlen mit wirksamen, progressiv gesteigerten und variierten Reizen mit hoher Kontinuität innerhalb eines Jahres und über die Jahre hinweg. Auf der einen Seite sollte ein Spitzensportler jeden Tag 24 Stunden lang ein Spitzensportler sein, auf der anderen Seite weiß man aus Erfahrung, dass das Wohlbefinden nicht allein von dieser Identität abhängen sollte. Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl müssen durch leistungsunabhängige Erfahrungen, Netzwerke und Werte zusätzlich gestützt sein. Dies ist nicht nur eine Frage der pädagogischen Ethik, sondern hängt auch direkt mit der Freude am Sport, der Motivation und der Disziplin zusammen im langjährigen Prozess ohne Dropout hin zu einem Spitzensportler (Olympiatoppen, 2019a).
Das Trainingsprinzip der stetig wachsenden Belastung ist im Wachstumsprozess von Kindern und Jugendlichen eine besondere Herausforderung für die Umsetzung in der Praxis. Körperliche wie auch die charakterlichen Entwicklungsprozesse verlaufen in Phasen. Äußere oder innere Reize sind Ausgangspunkt für Anpassungen zur Kompensation der Reize. Besonders am Ende dieser Anpassungsphasen gibt es die größten sichtbaren Veränderungen. Hier ist aber auch die Ungewissheit am größten, denn es gilt weder den Moment für weitere Steigerungen zu verpassen noch eine Überbelastung zu generieren. Hierfür ist eine erhöhte Aufmerksamkeit auf körperliche Parameter und die Beobachtung von Verhaltensauffälligkeiten hilfreich (Ferrauti et al., 2020).
Körperliche und mentale Fähigkeiten müssen über Jahre regelmäßig, kontinuierlich und Hand in Hand trainiert werden. So wird einerseits die Trainierbarkeit durch verbesserte und schnellere Kompensation von Trainingsreizen verbessert, andererseits die technische, taktische und körperliche Leistung an sich. Dieser Aspekt unterstreicht auch die Bedeutung des Trainingsprinzips der regulierenden Wechselwirkung einzelner Trainingsinhalte. Die körperliche Entwicklung, das Wissen über Training und den eigenen Körper sowie Wettkampferfahrung und Netzwerke sollten gemeinsam wachsen. Hierfür ist besondere Reflexion gefordert, um spezifische und unspezifische Anpassungen zuzulassen und optimal zu fördern.
Wie jeder Trainer, hat auch jeder Para Sportler ein eigenes Talent, eine eigene Persönlichkeit und eine individuelle Sozialisation. Die Komplexität für die Trainer besteht darin, Trainingsgruppen zu bilden, in denen Bedürfnisse für die Entwicklung und die individuelle Adaptionsfähigkeiten der Para Sportler bestmöglich berücksichtigt werden, in denen eine positive Leistungskultur und Offenheit für Fortschritt herrscht, Einzelne sich aber auch dem gemeinsamen Ziel verschreiben.
Nicht nur die möglichst dauerhafte Abwesenheit von Krankheit, sondern die positive Balance von körperlichem, geistigen und sozialem Wohlbefinden gibt uns die Möglichkeit chancenorientiert zu agieren und unseren Fokus aktiv zu setzen im Hinblick auf Leistungsentwicklung. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die diese Balance unterstützen. Auch sie benötigen regelmäßiges Training (Leidenfrost & Sachs, 2013).
Welche Faktoren tragen dazu bei, eine dauerhaft stabile Basis zu entwickeln, um aktiv und nicht eben nur passiv mit kritischen Situationen umgehen zu können und sie ggf. zu vermeiden? Wie können Athleten herausfordernde Situationen mit wirksamer Tatkraft meistern?
In einer insbesondere im Kindes- und Jugendalter (und auch z. B. nach Traumata) oftmals dynamischen Alltagsrealität begegnen Para Sportler zahlreichen Momenten, in denen sie bewusst und unbewusst Entscheidungen treffen, bei denen Chancen und Risiken abzuwägen sind. Manche werden als so relevant empfunden, dass emotionale Reaktionen zu verarbeiten sind. Diese Situationen gehören zur Entwicklung dazu, manchmal muss das Training und das Trainer-Athleten-Verhältnis daran angepasst werden.
Ein zentraler Begriff in Bezug auf physiologische, psychologische und soziale Entwicklungsschritte ist der des Stresses. Er hilft uns zwar mit kritischen Situationen umzugehen, im Übermaß und auf Dauer hemmt er jedoch nicht nur soziale Kommunikationsabläufe, sondern auch die körperliche Entwicklung, z. B. durch die Hemmung von Wachstumshormonen durch zu viel Cortisol im Blut oder Verletzungsanfälligkeit. Darüber hinaus kann auch die Erholung gestört werden, beispielsweise durch negativen Einfluss auf den Schlaf. Situationen und Ereignisse werden von jedem Athleten individuell anders beurteilt, denn die Wahrnehmung hängt immer auch von den jeweiligen Vorerfahrungen und Zielsetzungen ab (konstruktive Wahrnehmung). Neben der unterschiedlichen Einschätzung der Anforderungen sind auch die individuell wahrgenommenen Bewältigungsressourcen entscheidend für die jeweilige Stresswahrnehmung. Die Anforderungseinschätzung sollte mit der Ressourceneinschätzung ausbalanciert sein, sodass Stress vermieden werden kann. Wie auch beim Kraft- oder Ausdauertraining führt eine spezifische Belastungssituation nicht bei allen Athleten zu ein und derselben Beanspruchung. Ein Beispiel hierfür ist die Leistungserbringung vor Zuschauern oder das Erledigen von Aufgaben unter Zeitdruck (Schüler & Wegner, 2020).
Die folgende Veranschaulichung zeigt den Einfluss der Grundbelastung bzw. des Mangels an (situativen) Bewältigungsressourcen auf. Die Abbildung kann mit einem stark situativen oder einem langfristigen Fokus betrachtet werden, z. B. im Hinblick auf Übertraining, oder im Hinblick auf physische, psychische, soziale oder gesamtheitliche Beanspruchungen.

Ob man durch eine Situation an und über sein persönliches Limit kommt oder ob noch Spielraum bleibt, hängt von Grundbelastung und Bewältigungsstrategien ab. Ein Überschreiten des Belastbarkeitslimits kann zu Krankheiten oder Verletzungen führen Abb.: R. Kiefer.

Um zu unterstützen, dass die Para Sportler den im Laufe ihrer Entwicklung wachsenden Belastungen mit geeigneten, mitwachsenden Ressourcen begegnen können, gibt es ein im Folgenden dargestelltes Stufenmodell.
Basis sind problemlösungs- und emotionsorientiere Bewältigungsstrategien, um situativ flexibel reagieren zu können, möglicherweise sogar einen (gefühlten) Kontrollverlust zu vermeiden. So kann es beispielsweise problematisch sein, zu früh internationale Wettkämpfe zu bestreiten, wenn es keine regionalen Wettkämpfe geben sollte. Es ist Ziel, dass Para Sportler keine Schwierigkeiten haben das eigene Leistungsvermögen oder spezielle Situationen richtig einzuschätzen. Generell müssen sie dabei unterstützt werden zwischen Reiz und Reaktion das für sie Hilfreiche zu tun.
Das gilt insbesondere in Bezug auf Training, Wettkampf, Gesundheit, Ernährung und Soziales. Ziel ist ein besserer Umgang mit Stress, leistungsfähiger und sozial kompetenter zu sein, um einen erfolgreichen Weg in Sport, Schule/Beruf und Privatleben zu gehen (Sandbakk et al., 2017).
Die folgenden Kapitel sind in die Entwicklungsstufen untergliedert und jeweils in Trainingskennziffern und psychologische und soziale Entwicklungsschritte differenziert, um jeweils Anhaltspunkte und Zielsetzungen für jeden Para Sportler in der Entwicklung zu geben. Entscheidend für die Anwendung dieses Stufenplanes ist nicht das kalendarische Alter, sondern nebst kognitivem insbesondere das biologische Alter und das Trainingsalter. Gekennzeichnet ist dies beispielsweise durch den Verknöcherungszustand des Skelettsystems, die Körpergröße und Statur, die Körpermasse, die Reifung von Geschlechtsmerkmalen, die Körperoberfläche, wie auch Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems sowie die Veränderung des Körperfettanteils im Verhältnis zur Muskelmasse. Bei Mädchen ist dieser Quotient im Gegensatz zu den Jungen steigend (Wolf & Kullmann, 2010).
Ab ca. 14 Jahren sind Jungen oft leistungsfähiger als Mädchen. Davor, im Alter von 12-14 Jahren, sind die Unterschiede im Reifungsprozess von Jungen und Mädchen besonders groß. Die Mädchen entwickeln sich früher (Jungbauer, 2017). Auch innerhalb der beiden Geschlechtergruppen sind Verschiebungen von Wachstumsphasen von zwei bis vier Jahren normal. Der Unterschied in der Reifung zwischen einem frühentwickelten Mädchen und eines spätentwickelten Jungen kann folglich besonders auffallend sein (Sandbakk et al., 2017). Genetische Voraussetzungen und Umfeldbedingungen, aber auch die persönlichen Interessen der Jugendlichen, beeinflussen neben dem Trainingsalter die Planung und Umsetzung. Die zuständigen Trainer erstellen anhand dieser Parameter individuelle Trainingspläne. Mit zunehmender Erfahrung der Para Sportler, wird die Zusammenarbeit bei der Erstellung der Trainingspläne weiter verstärkt. Tages-, Wochen- und Jahrespläne werden nach Grad und Art der Behinderungen und ggf. deren Verlauf angepasst.
Es empfiehlt sich den Fokus auf einfache und unstrittigen Sachverhalte, die sogenannten Basics, zu richten, häufige Erkrankungen zu vermeiden, das Grundlagentraining in hoher Qualität zu absolvieren und geduldig zu sein (Sandbakk et al., 2017).
Die Grundbelastung auf körperlicher, mentaler und sozialer Ebene richtig einschätzen zu können ist, eine große Kunst, aber die Grundlage für langfristigen Erfolg. Bei aller Komplexität wird es nicht möglich sein, alles in jedem Detail zu jeder Zeit in einem längeren Verlauf richtig zu machen. Das darf auch nicht die Erwartung sein (Schwirtz et al., 2010).
Die Trainer müssen immer bereit sein zu, sich selbst zu hinterfragen und das System regelmäßig anzupassen. Der Wirkung von Training liegen multiple Wirkfaktoren zugrunde. Neben den fachlichen Kompetenzen des Trainerteams sind auch überfachliche Kompetenzen wie der Umgang mit Motivation, Emotion und Einstellung sowie den Zielen im Sinne der ganzheitlichen Entwicklung wichtig. Defizite in bestimmten Bereichen können ggf. mit Stärken in anderen Bereichen kompensiert werden, entscheidend ist das Zusammenwirken aller Beteiligten. Neben den sichtbaren Methoden und Organisationsformen ist es vor allem die Tiefenstruktur, mit Aspekten wie der allgemeinen Führung, der (zusätzlich zur körperlichen) kognitiven Aktivierung oder den individuellen, konstruktiven Hilfen und Vier-Augen-Gesprächen, die die Wirksamkeit ausmacht (Kunter & Trautwein, 2013).

Die folgenden Kapitel geben eine Orientierungshilfe für wirksames und nachhaltiges Training.

Stufen der Entwicklung über die Jahre. Darstellung von R. Kiefer nach Sandbakk et. al., 2017.

Im Folgenden wird näher auf ein Stufenmodell mit seinen verschiedenen Etappen und Kennziffern eingegangen. Durch die großen Unterschiede der Lebensläufe und die unterschiedlichen Behinderungen muss dieses in Bezug auf den Para Sport mit einer gewissen Flexibilität betrachtet werden, um der notwendigen Individualität der Sportler gerecht zu werden. Gerade Quereinstiger nach Unfällen bringen verschiedenste Vorerfahrungen mit und sind häufig älter als die genannten Altersbereiche und haben viele Entwicklungsschritte schon durchlaufen. Für diese Sportler ist es hilfreich sich ggf. stufenübergreifend fähigkeitsorientiert einzuordnen oder die Etappen schneller als üblich zu durchlaufen. Das Konzept des Trainingsalters kommt hierbei besonders zum Tragen.