Para
Leichtathletik
2.1 | Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung gewandelt. Dieser Prozess ist der rechtlich festgeschriebenen Teilhabe von Menschen mit Behinderung und nicht zuletzt der Entwicklung des Para Leistungssports geschuldet. Letzterer soll nachfolgend erläutert werden.
Versteht man „Gesundheit“ als Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, bedeutet „Krankheit“ das Fehlen von Gesundheit aufgrund entsprechender objektiv feststellbarer Veränderungen bzw. Störungen, die Behandlung erfordern, um den ursprünglichen, gesunden Zustand wiederherzustellen. „Behinderung“ bezeichnet im Unterschied zu Krankheit eine nicht nur vorübergehende, sondern dauerhafte relevante Beeinträchtigung.
Als Behinderung gilt jede funktionelle Störung, die Sport nicht ohne Einschränkung betreiben lässt: Einschränkungen auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene, Einschränkungen der Motorik, der Denk- oder Lernfähigkeit, Kommunikation und/oder der Verhaltensweisen. (DBS)
Diese partielle Behinderung wurde von der sozialen Umwelt, also einer Mehrheit der Mitmenschen, fälschlicherweise auf die ganze Person übertragen. Worms (2015) spricht von einer „Defizit-Orientierung“. So war der Begriff „Behinderter“ in der Alltagssprache überwiegend negativ besetzt, er wurde auch im Sport gerne dem „Normalen“ gegenübergestellt. Dabei spielten Verallgemeinerungen und Klischees eine Rolle, wie sie bildlich durch die Gleichsetzung von Behinderung und Inaktivität zum Ausdruck kommen (Abb. 2.1, links).
Aus dem zugrunde liegenden Gesundheitsproblem einer Person entsteht aber erst durch die Reaktionen der sozialen Umwelt eine Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeit insgesamt (Will, 2014, 7). Dies gilt verstärkt für Frauen und Mädchen mit Behinderung, die auf die negativen Reaktionen der Umwelt stärker mit Rückzug reagieren (Kemper, 2015, 75). Indem die körperliche bzw. geistige Beeinträchtigung auf den ganzen Menschen übertragen wird, fi ndet eine Abwertung, Stigmatisierung und Ausgrenzung statt, sind Würde und Integrität des Menschen gefährdet. Die Folge ist Vermeidung, und zwar von beiden Seiten:
- Menschen mit Behinderung
- versuchen ihre Behinderung zu verbergen bzw. zu kaschieren
- lehnen ihre Einstufung als Behinderter ab („ich bin nicht behindert“), was leistungsfähige Para Sportler durchaus überzeugend darstellen (Abb. 2.1, rechts)
- grenzen sich von Menschen mit anderen, vermeintlich stärker stigmatisierenden Behinderungen ab
- Menschen ohne Behinderung
- werten Menschen mit Behinderung oftmals unbewusst ab
- können Schuldgefühle gegenüber Menschen mit Behinderung empfinden
- spüren eine Diskrepanz zwischen dem offiziellen Gebot zur Hilfestellung und der inoffiziellen Diskriminierung/Ausgrenzung
- meiden Menschen mit Behinderung bzw.
- vermeiden bei Kontakten mit ihnen, sie auf ihre Behinderung anzusprechen (vergl. Köpke, 2018a und c)
Doch erscheint Vermeidung nicht als die richtige Strategie, zu einem angemessenen Umgang mit Behinderung zu gelangen, sie zementiert vielmehr Vorurteile und Nischen, in denen die jeweiligen Parteien verhaftet bleiben.
Abb. 2.1 Unterschiedliche Veranschaulichung von Menschen mit Behinderung: links passiv, unkommunikativ, hilfebedürftig; rechts selbstbestimmt, dynamisch (nach Adler, 2014)
Als wichtiger Schritt auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe erscheint es uns, den Sprachgebrauch zu überdenken, gegebenenfalls zu ändern: Also nicht von „Behinderten“, sondern von „Menschen mit Behinderung“ zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass Menschen nicht primär, gar ausschließlich aufgrund ihrer Behinderung, sondern in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden müssen und die Behinderung nur einen Teilaspekt ausmacht (Wildhagen et al., 2014, 1382). Dafür bedeutsam ist, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit nicht allein als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern auch als Aktivität und Partizipation in der sozialen Umwelt (vergl. Will, 2014). In diesem Zusammenhang stellt der Sport ein wichtiges Handlungsfeld für Menschen mit Behinderung dar, weil im Sport Aktivität und Partizipation in eine Bildsprache übersetzt wird (Abb. 2.1, rechts), die zeigt, dass Menschen mit Behinderung durchaus sportlich sein können
Beeinträchtigungen am Bewegungsapparat bzw. Gangbild werden unmittelbar wahrgenommen und unterscheiden Menschen mit Behinderungen von der „Normalgesellschaft“ (Köpke, 2018f). Die Reaktionen der Umwelt sind komplex, z. T. auch widersprüchlich: Unbewusstes Abwerten und Ignorieren mischen sich mit Mitleid und Schuldgefühlen, Helfen-Wollen oder -Müssen, gar Überfürsorglichkeit. Daraus resultiert nicht selten eine Distanzierung, soziale Beeinträchtigung und Stigmatisierung (Köpke & Schöning, 2018, 23f; siehe Abb. 2.2), die sich nachteilig auf die objektive Lebenssituation und die Psyche von Menschen mit Behinderung auswirken kann. Ohne starken eigenen Willen und ohne private wie professionelle Hilfen drohen Depression und Lethargie. Damit steigt das Risiko für weitere Erkrankungen, Abhängigkeit und Ausgrenzung (vgl. Guttmann, 1973).
Abb. 2.2 Behinderung als Ergebnis des Zusammenwirkens innerer und äußerer Faktoren (Innenmoser, 2015 nach Will, 2014, 3)
Derartige Negativspiralen können durch das Engagement der Beteiligten, seien es Menschen mit Behinderung selber, seien es Angehörige, Trainer oder Medienvertreter, durchbrochen werden (Radtke & Schäfer, 2019, 314). Worms (2015) schlägt stattdessen vor, den Defizit-Ansatz durch die Vorstellung der „Vielfalt“ zu ersetzen. Indem einzelne Mitglieder der Gruppe bzw. der Gemeinschaft verschieden sind, wird diese insgesamt vielfältiger, bereichert und nicht beschnitten, es kann eine „Vielfalt auf Augenhöhe“ entstehen, wie es heute durch die Begriffe „Inklusion“ (s. u.), aber auch „Identität“ zum Ausdruck gebracht wird (Fukuyama, 2020). Dabei können Para Athleten einen wesentlichen Beitrag leisten, denn sie nehmen ihre Behinderung an, finden einen Umgang mit ihr, der sie zu beachtlichen sportlichen Leistungen, im Einzelfall Höchstleistungen befähigt. Der Vorbildfunktion von Para Sportlern kommt hier eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, die durch eine fortlaufende Berichterstattung in den Medien noch forciert wird.
Abb. 2.3 Niko Kappel zeigt vorbildliches Verhalten, indem die Kampfrichter in die Freude über seinen neuen Weltrekord mit einbindet
Das Engagement vieler Beteiligter (Para Athleten selber, Trainer und andere Betreuer, Angehörige, Vertreter aus Politik und Verwaltung, Sponsoren) hat dazu geführt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten das gesellschaftliche Bewusstsein für Menschen mit Behinderung gewandelt hat. Wegner (2015, 67) spricht von der Kontakt-Hypothese, dass also durch reale oder mediale Kontakte Vorurteile abgebaut werden. Menschen mit Behinderung werden heute als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft, als Experten für den Umgang mit Einschränkungen geschätzt. Ihr Werdegang von der schwierigen Ausgangslage nach dem ersten Auftreten der Behinderung bis zur sportlichen Höchstleistung wird zurecht als „Erfolgsstory“ wahrgenommen und auch medial so präsentiert
Im modernen gesellschaftlichen Verständnis wird „Behinderung“ nicht primär auf der individuellen Ebene aufgrund körperlicher oder geistiger Defizite erklärt, sondern auch umwelt-, gesellschaftsbezogen durch eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten („Hindernisse“) verursacht (Schliermann et al., 2014). Um diese zu reduzieren, werden bestehende Barrieren, wörtlich wie im übertragenen Sinn – wo möglich und so weit als nötig – abgebaut bzw. verringert. Durch das Zur-Verfügung-Stellen technischer Hilfsmittel und Begleitpersonen wird die Mobilität zusätzlich gefördert (DBS, 2020, 22). Auch darüber hinaus werden Menschen mit Behinderung bei der (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft unterstützt, um ihnen ein autonomes Leben zu ermöglichen, sie in gesellschaftliche Abläufe einzubinden, ihre ganze Arbeitskraft wirksam werden zu lassen und ihre besondere Expertise optimal zu nutzen.
Es sind große Zentren entstanden, in denen Verunfallte und Erkrankte aufgrund der Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnisse unterschiedlicher Berufsgruppen/Fachbereiche systematisch behandelt und bis zu einer ersten Selbstständigkeit nachversorgt werden. Dabei spielt Sport zur Wiederherstellung einer körperlichen Fitness unter den veränderten Bedingungen eine wichtige Rolle.
All diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass heute ein Großteil der Menschen mit Behinderung ein weitgehend eigenständiges Leben, privat in der eigenen Wohnung, aber auch in Beruf, Freizeit und auf Reisen führen kann. Viele Zugänge im öffentlichen Verkehr und Gebäuden sind inzwischen „barrierefrei“, Arbeitsplätze und Wohnungen werden behindertengerecht eingerichtet. Dennoch besteht hier ein großer Nachholbedarf.
Einschub: Zwei Zugänge
Behinderungen können von Geburt an bestehen, erst allmählich und mit zunehmendem Alter relevant werden oder durch ein Trauma schlagartig eintreten.
- a. Besteht die (schwere) Behinderung seit der Geburt, suchen die Angehörigen meist früh professionelle Hilfe und organisieren sich in informellen Gruppen. Dadurch haben die Kinder/Jugendliche und ihre Angehörigen in der Regel von Anfang an einen Austausch unter in gleicher Weise Betroffenen. Neuhinzukommende werden durch Erfahrene beraten oder können sogar schon auf institutionalisierte Lösungen zurückgreifen. So geben die Eltern – sofern es angeboten wird – ihre Kinder in solche Kindergärten und Schulen, die auf Menschen mit Behinderung eingestellt und entsprechend eingerichtet sind. Dazu zählt auch das Sporttreiben mit Behinderung, für das es in größeren Städten besondere staatlich-kommunale und Vereins-Angebote gibt (Köpke, 2018e).
- b. Im Falle des allmählichen oder plötzlichen Eintretens einer Behinderung während der Jugend oder im Erwachsenenalter sind das bisherige Selbstverständnis bzw. die Integrität des Einzelnen akut gefährdet. Nach Überwindung der ersten Traumatisierung ist der Mensch mit Behinderung um Wiederherstellung seiner Integrität als vollwertiges gesellschaftliches Mitglied und um ein selbstbestimmtes Leben bemüht. Dies kann einerseits auf eine schnelle Wiederherstellung der früheren Normalität in Beruf, Mobilität und Freizeit hinzielen. Insoweit das nicht möglich ist, kann die Integrität andererseits auch durch eine Neuausrichtung des Lebens geschehen, in dem ein anderer, zur Behinderung passender Beruf gesucht, der Alltag umgestaltet und auch die Freizeit neu ausgerichtet wird. Dabei ist der Beitritt in eine Gruppe ähnlich Betroffener von Vorteil, mit denen ein Wir-Gefühl aufgebaut, Situation, Probleme und Perspektiven diskutiert, voneinander gelernt und gemeinsam nach Lösungen gesucht wird.
Unabhängig davon, ob eine Behinderung von Geburt an besteht oder im Laufe des Lebens eintritt, ist neben dem Eintritt in Selbsthilfegruppen die parallele Integration in Gruppierungen mit Menschen ohne Behinderungen genauso wichtig, um sich (wieder) in die Gesellschaft einzugliedern und um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, z. B. in Ausbildung, Arbeitsplatz, Familie nicht zuletzt Freizeitgruppen wie im Gesundheits- und Leistungssport (vergl. Köpke, 2018d).
Auch ist ein neues Bewusstsein entstanden, wonach die Helfer (Pfleger) den Menschen mit Behinderung „assistieren“ und sie nicht fremdbestimmen. Statt institutioneller „Verbesonderung“, Machtausübung und Stigmatisierung, wie es Goffmann (1973) für entsprechende Einrichtungen Deutbeschrieb, ist das Ziel der betreuenden Pflege die Entfaltung der Persönlichkeit und der Erhalt einer unbeschadeten Identität. Dabei kann das Sporttreiben, insbesondere der Wettkampfsport eine wesentliche, positive Rolle spielen. Denn dann findet die Eigen- und Fremdwahrnehmung als „Menschen mit Behinderung“ nur noch am Rande, sozusagen als Randbedingung, statt. In erster Linie werden sie als geachtete Leistungssportler wahrgenommen.