Para
Schwimmen
Herausforderungen
Wie eingangs beschrieben, stellt die Klassifizierung eine notwendige Bedingung für einen möglichst fairen Wettbewerb von Menschen mit Behinderung dar. Zum Nichtbehindertensport stellt das Klassifizierungssystem damit einen einzigartigen Unterschied dar, der gleichsam verdienstvoll wie kontrovers und zwiespältig für den Para Sport ist. Fragezeichen hinsichtlich von Vergleichbarkeit, Fairness und Betrug entstehen regelmäßig im medialen Licht von internationalen Großereignissen, aber auch in individuellen Fällen auf Ebene des Nachwuchsleistungssports. In der Folge sollen einige Hintergründe in dieser Debatte aufgezeigt werden, um für die Herausforderungen in dieser Thematik zu sensibilisieren und für eine förderliche Haltung im Umgang mit Nachwuchsathleten und deren Eltern zu werben.
Das Klassifizierungssystem ist historisch gewachsen und ihm liegen Expertenwissen und medizinische Kriterien zugrunde, die nur von geschultem Personal gemessen und bewertet werden dürfen. Gleichwohl spiegeln diese Kriterien erwiesenermaßen nicht immer die für einzelne Sportarten relevanten Merkmale und Testverfahren wider, was das Risiko ungenauer oder sogar unfairer Einstufungen birgt (Burkett et al., 2018; Maia et al., 2021)). Auch ist dem aktuellen System ein subjektiver Anteil verhaftet, da den Klassifiziererinnen und Klassifizierern bei der Bewertung von Testverfahren und Beobachtungen ein gewisser Ermessensspielraum eingeräumt wird (Smith et al., 2021). Dies gilt gleichermaßen für körperliche, intellektuelle wie auch Sehbehinderungen. Der wissenschaftliche Ruf nach einer Reformierung des Klassifizierungssystem hin zu einem evidenzbasierten System (d.h. einem System, dass empirisch belegte Kriterien und Testverfahren anwendet) ist daher schon lange laut (Tweedy, 2002) und wird auch offiziell durch das paralympische Komitee vorangetrieben (Tweedy & Vanlandewijck, 2011). Seitdem hat sich eine enorme Forschungstätigkeit entwickelt, die viel spezifisches Wissen gewinnen und neue technologische Möglichkeiten erschließen konnte, obgleich die Forschungslücken beträchtlich bleiben und noch keine grundlegenden Veränderungen am aktuell bestehenden System vorgenommen wurden. Zur Vertiefung werden nachfolgend einige Anhaltspunkte und Zwischenergebnisse der Forschung präsentiert.
Es ist festzuhalten, dass die bestehende Klassifizierung bei aller möglichen Kritik aktuell das beste System darstellt, das im Para Sport jemals zur Schaffung vergleichbarer Bedingungen zur Verfügung stand. Auch das aktuelle System entstand in Weiterentwicklung von mittlerweile ausgedienten Kriterien und ist selbst Teil eines steten Wandels.
Der grundlegende Forschungsschwerpunkt bei körperlichen Behinderungen ist die Feststellung von Zusammenhängen zwischen körperlichen Funktionen und Eigenschaften sowie deren Beiträgen zur Schwimmleistung. Hierzu sollen verlässliche Testverfahren an Land und im Wasser entwickelt werden. Ein Ansatz, der im bisherigen System höchstens subjektiv beachtet wird, ist bspw. der Einfluss der Behinderung auf die Körperform und die daraus resultierenden Widerstände (Hogarth, et al. 2021): So können aktuell zwei Schwimmer mit einer kompletten Querschnittlähmung in der gleichen Startklasse offensichtlich sehr unterschiedliche Leistungsvoraussetzungen aufweisen, wenn der eine Sportler eine für das Schwimmen günstige Streckspastik in den Knien aufweist, während der andere Schwimmer mit einer Beugespastik sehr viel mehr Widerstand ausgesetzt ist bzw. mit einer ungünstigen Wasserlage zurechtkommen muss. Hier könnten zukünftig technologisch gestützte Messverfahren für präzisere Bewertungen sorgen, die bspw. auch für die Erfassung von Kraft- und Beweglichkeitsleistungen erprobt werden (Barbosa et al., 2021).
Auch der Modus der Klassifizierung als punktuelle Maßnahme ist diskussionswürdig, da sich die Auswirkungen einer Behinderung bspw. hinsichtlich einer Spastik, koordinativer oder auch intellektueller Einschränkungen im Tagesverlauf unterscheiden bzw. dem Einfluss der individuellen „Tagesform“ unterliegen können. Wilson und Kollegen (2021) weisen hier bspw. in einer Studie zu Schwimmerinnen und Schwimmer mit Zerebralparese auf die Notwendigkeit von Längsschnittuntersuchungen hin und empfehlen für diese Personengruppe mehrere Messzeitpunkte über den Zeitraum von einem Jahr, um aussagekräftige Werte zu erhalten. In dieser Untersuchung konnte zudem eine auf das Training rückführbare Verbesserung der Schwimmleistung festgestellt werden, wobei aber Kraft-, Beweglichkeits- und Koordinationswerte stabil blieben – d.h. das Training hatte keinen Einfluss auf die für die Klassifizierung relevanten Parameter. Diese Erkenntnis ist interessant, weil mit dem Training auch die Erwartung einhergehen könnte, dass sich diese Parameter verbessern könnten, was wiederum negative Auswirkungen auf die Klassifizierung haben könnte (eine höhere Startklasse würde ggf. geringere Erfolgsaussichten bedeuten). Da der Trainingszustand keinen Einfluss auf die Klassifizierung haben darf, müssen neue Testverfahren und Parameter entsprechend robust gegenüber Trainingseffekten sein.
Auch im Bereich der Sehbehinderungen werden neue Bewertungsmaßstäbe gefordert, die über die Feststellung von Sehvermögen und Gesichtsfeld hinausgehen (Ravensbergen, 2016). Hinsichtlich der aktuell eher simplen Diagnostik erscheint hier die Betrugsproblematik besonders gravierend, was mittlerweile auch in den wissenschaftlichen Diskurs eingeflossen ist (Powis & Macbeth, 2020). Das bisherige Verfahren legt keine sportartspezifischen Kriterien an bzw. berücksichtigt nicht die tatsächlichen Auswirkungen der Behinderung auf die Ausübung einer Sportart im Wettkampf und im Training. So verhalten sich Lichtverhältnisse an Land und unter Wasser grundsätzlich anders, was bei einer Sehbehinderung individuell sehr unterschiedliche Folgen haben kann (Suoto, 2017). Verbesserungswürdig ist auch der Umstand, dass nicht berücksichtigt wird, ob die Sehbehinderung angeboren oder erworben wurde, was enorme Folgen für den motorischen Lernprozess bedeuten kann. In diesem Zusammenhang wäre auch der Zeitpunkt des Eintritts der Behinderung von großem Interesse.
Eine differenziertere Diagnostik befindet sich auch im Bereich der intellektuellen Beeinträchtigungen in der Entstehung (van Biesen et al., 2021). Hier besteht zudem die Problematik, dass für diese Personengruppe im Para Schwimmen aktuell nur eine Startklasse vorgesehen ist und klassenweise Differenzierungen nicht möglich sind. Die Erweiterung des Wettkampfsystems durch mehrere Startklassen für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung scheint dabei für einzelne Autoren notwendig, da es klare Belege dafür gibt, dass mit dem Grad der geistigen Einschränkung immer auch motorische Einschränkungen einhergehen, wobei mit niedrigerem Intelligenzquotienten mehr und/oder stärkere begleitende Störungsbilder erwartbar sind[1] (Gilderthorp, 2017). Eine intellektuelle Beeinträchtigung müsse demnach ganzheitlicher als komplexe Konstellation intellektueller, sensorischer und motorischer Eigenschaften verstanden und bewertet werden. Folglich bedarf es auch einer komplexeren Klassifizierung und Diagnostik, die diese Konstellation abbilden kann. Zur Disposition steht dabei auch der Intelligenzquotient als Indikator für die intellektuellen Kapazitäten, da neue Messverfahren deutlich aussagekräftigere Ergebnisse versprechen (Lemmey, Burns & Jones, 2021).
[1] Nicht selten sind Aktive mit intellektueller Beeinträchtigung auch für eine Startklasse für körperliche Einschränkungen klassifizierbar. In der Praxis muss dann abgewogen werden, wo gestartet werden soll, da nicht mehrere Startklassen erworben werden können. Sind die körperlichen Einschränkungen so beträchtlich, dass eine eher niedrige Startklasse zusteht (bspw. Startklasse S6), wird die Beteiligung im Bereich der körperlichen Behinderungen aussichtsreicher sein.
Die sportlichen Perspektiven von Athletinnen und Athleten können maßgeblich von der Klassifizierung bzw. Startklasse bestimmt sein: Die Bepunktung innerhalb jeder Startklasse umfasst eine gewisse Spannbreite, sodass Sportlerinnen und Sportler an deren oberem und unterem Ende in ihren Leistungsvoraussetzungen bedeutsame Unterschiede aufweisen können. Eine höhere Bepunktung innerhalb einer Startklasse lässt auf eine funktionell höhere Leistungsfähigkeit schließen, was entsprechend vorteilhaft gegenüber anderen Schwimmerinnen und Schwimmern der gleichen Startklasse mit niedrigeren Werten sein kann. Patatas und Kollegen (2020) sprechen in diesem Zusammenhang von der Klassifizierung als „strategischem und fundamentalem Faktor für erfolgreiche Karrierewege“, womit die Klassifizierung auch als sportartspezifischer, durch Regularien bedingter Talentindikator verstanden werden kann.
Spätestens mit dem Erreichen einer nationalen Kaderzugehörigkeit und der internationalen Klassifizierung sollte daher das Optimum bei der Startklassenzugehörigkeit jener Sportlerinnen und Sportler ermittelt werden, die sich an den Grenzen einer Startklasse befinden. Andernfalls kann die sportliche Perspektive drastisch sinken oder im dramatischsten Fall sogar gänzlich entfallen, wenn Sportlerinnen und Sportler international als nicht klassifizierbar eingeschätzt werden und gar keine paralympische Startklasse erhalten. Derartige Fälle treten nationenübergreifend immer wieder auf und bedeuten nicht selten das abrupte Karriereende. Zwar bleibt dann im deutschen Wettkampfsystem die Startmöglichkeit mit einer allgemeinen Behinderung (AB) und ggf. die Perspektive auf eine erneute Klassifizierung zu einem späteren Zeitpunkt, für den im Karriereweg fortgeschrittenen Sportler werden dann aber zumindest vorübergehend sämtliche nationalen Fördermaßnahmen entfallen (Geldleistungen, Trainingslager und Lehrgänge, Anrecht auf leistungsdiagnostische und medizinische Maßnahmen etc.). Die Abwägung wiegt dann entsprechend schwer, ob eine erneute Klassifizierung erfolgsversprechend erscheint und damit die komplett eigenfinanzierte Fortführung der Karriere gerechtfertigt ist[1].
[1] Auch bei einem vorzeitigen Ende der paralympischen Karriere im Schwimmen muss und sollte dies nicht das Ende einer sportlichen Laufbahn bedeuten: Auch ohne paralympische Perspektive bietet der Schwimmsport ein anregendes Umfeld im Behinderten- wie Regelsport. Aufgrund der kleinen Zielgruppe im Para Sport sollte unbedingt abgeklärt werden, ob ausscheidende Sportlerinnen und Sportler nicht eventuell in einer anderen paralympischen Sportart eine Perspektive finden können (Radtke & Doll-Tepper, 2014).
Um in solchen Fällen das Optimum bei der Klassifizierung zu erreichen, ist eine Ausreizung des Regelwerkes nötig, um den Punktwert so weit wie möglich zu senken. Hiermit ist explizit nicht die Vortäuschung falscher Tatsachen bzw. Betrug gemeint, sondern die Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Anerkennung relevanter Funktionseinschränkungen innerhalb des Regelrahmens. Dafür braucht es entsprechende Expertise in den komplexen Regularien des Klassifizierungssystems, was von Seite der Trainerinnen und Trainer nicht geleistet werden kann. Im Zuge der Professionalisierung des paralympischen Sports haben sich daher bei den führenden Nationen entsprechende Expertinnen und Experten in den Funktionsteams etabliert: Eigene Klassifiziererinnen und Klassifizierer sowie medizinisches Personal können Potenziale für Funktionseinschränkungen bei Sportlerinnen und Sportler erkennen und relevante Befunde ausstellen oder gezielt anordnen lassen. Gängig sind dabei interne Klassifizierungen, die vorab durchgeführt werden und einen gewünschten und dabei belegbaren Erwartungswert ermitteln. Führt die Klassifizierung zu ungewünschten Abweichungen können solche Expertinnen und Experten schon im Klassifizierungsprozess eingreifen, indem bspw. Formfehler bei den Messungen bemängelt und dokumentiert werden. Grundsätzlich können ungewünschte Klassifizierungsentscheide im Nachgang mit einem Protest versehen werden, dessen Ausgang deutlich aussichtsreicher für die Aktiven wird, wenn relevante Argumente wie Formfehler belegt werden können.
Eine solch professionelle Vor- und Nachbereitung sowie Begleitung des Klassifizierungsprozesses existiert in Deutschland bislang nicht sportartspezifisch, was für den Spitzenbereich einen klaren Wettbewerbsnachteil darstellt. Die Behebung dieses Problems ist nur systemisch bzw. sportpolitisch zu lösen, muss perspektivisch aber auch mit einer Verbesserung der Klassifizierungssituation „an der Basis“ einhergehen. Hier kümmern sich ehrenamtliche Klassifizierinnen und Klassifizierer auf Landes- und nationaler Ebene um die regelmäßige Einstufung von Schwimmerinnen und Schwimmer aller Altersklassen und Behinderungsarten. Der Kreis der deutschen Klassifizierinnen und Klassifizierer ist allerdings übersichtlich[1] und durch die Ehrenamtlichkeit sind ihrer Leistungsfähigkeit (Häufigkeit der Klassifizierungstermine, Beratungsleistungen etc.) enge Grenzen gesetzt. Dies kann als zusätzliche Herausforderung für die Nachwuchsgewinnung aufgefasst werden.
[1] Eine aktuelle Liste der Ansprechpartner für die jeweiligen Landesverbände ist auf der Homepage der Abteilung Schwimmen des DBS verfügbar.
Dementsprechend ist eine Aufstockung im Personalpool des deutschen Klassifizierungswesens anzustreben. Angesprochen sind insbesondere Interessierte mit einem medizinischen Hintergrund (Ärztinnen und Ärzte, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten), die als medizinische Klassifizierinnen und Klassifizierer für die funktionelle Untersuchung bei körperlichen Behinderungen eingesetzt werden können. Augenärzte oder Optometristen kommen für die Klassifizierung von Sehbehinderungen in Frage, Psychologinnen und Psychologen oder ähnliche Berufsgruppen für die Klassifizierung von geistigen Behinderungen. Für Trainerinnen und Trainer ergibt sich eine Chance bei der Gewinnung neuer Klassifizierinnen und Klassifizierer, indem bei der Eltern- und Netzwerkarbeit regelmäßig potenzielle Personen für diese Aufgabe angesprochen werden. Trainerinnen und Trainer selbst können sich neben Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sowie Sportlehrkräften zu technischen Klassifizierenden ausbilden lassen, um bei Wasser- und Wettkampfbeobachtung zum Einsatz zu kommen. Weiterführende Informationen stellt die Abteilung Schwimmen im DBS zur Verfügung, welche auch die Ausbildung für die Stufe der Landesklassifizierung[1] organisiert, die zum medizinischen oder technischen Klassifizierenden qualifiziert. Die Ausbildung ist in drei Module gegliedert, die insgesamt einen Umfang von 7 Tagen haben.
[1] Eine gesonderte Ausbildung zum nationalen Klassifizierer existiert nicht. Der Einsatz als nationaler Klassifizierer erfolgt nach gewonnener Praxiserfahrung in Abstimmung mit der Abteilung Schwimmen im DBS. Eine weitere Qualifizierung zum internationalen Klassifizierer kann nach weiterem Erfahrungsgewinn über die Abteilung Schwimmen und World Para Swimming erfolgen.
Die Klassifizierung stellt für alle Beteiligten einen sensiblen Prozess dar, welcher in der Regel von Seite der Trainerinnen und Trainer moderiert werden muss.
Allen voran begibt sich dabei der Sportler in eine sterile Situation[1] und muss eingehende Untersuchungen über sich ergehen lassen, wobei er ständig unter kritischer Beobachtung steht und am Ende eine Bewertung für seine „Abweichungen von der Normalität“ (Peers, 2012) erhält. Dies mag widersprüchlich sein, da sich unsere Gesellschaft richtigerweise in allen Bereichen darum bemüht die Chancen der Vielfalt zu betonen und auch Behinderungen als Normalität anzuerkennen. Gerade für Eltern mag es da befremdlich wirken, wenn ihr Kind nun ein Label für seine Einschränkungen erhalten soll, während bspw. in der inklusiven Beschulung oder auch im Sportverein längst keine Unterschiede mehr herausgestellt werden. Skepsis und Hemmungen gegenüber der Klassifizierung und dem Behindertensport im Allgemeinen sind daher nicht selten, da keine Herausstellung der Behinderung gewünscht wird. Allerdings ermöglicht der Para Sport Menschen mit Behinderung die bestmögliche Umsetzung wettkampf- bzw. leistungssportlicher Prinzipien und in deren Sinne auch die Anerkennung der individuellen Leistungsfähigkeit, was im Regelsport nicht gegeben ist. Statt einer Bewertung von Andersartigkeit sollte sie daher besser als Feststellung von Individualität verstanden werden.
[1] Howe (2008) vergleicht die Situation in extremer Zuspitzung mit der einer Biologievorlesung, in der der Sportler wie ein Präparat zur Anschauung gestellt wird.
Markus Lindenberg (Altersport Hamburg) ist langjähriger Trainer im Para Schwimmen und führt Klassifizierungen auf regionaler und nationaler Ebene durch (Foto: Michael Lapp).
„Als Klassifizierer trage ich eine große Verantwortung, damit wir gerechte Bedingungen in unserem Sport sicherstellen. Mir ist wichtig, für den Sportler das beste und gerechteste Ergebnis festzustellen, dass bei Einhaltung aller gültigen Regeln möglich ist. Dass ich selbst im Rollstuhl sitze, kann dabei besonders bei sehr jungen Sportlerinnen und Sportler sowie deren Eltern hilfreich sein, da so gewisse Hemmungen fallen, wenn über die eigene Behinderung gesprochen wird.“
Für die im Regelsport aktiven Sportlerinnen und Sportler mit leichteren Behinderungen sowie deren Eltern und Trainern mag die Beteiligung im gewohnten Umfeld ausreichend und herausfordernd genug sein, weil die beschriebenen Vorbehalte gegenüber dem Behindertensport überwiegen. Hierbei ist festzuhalten und darüber aufzuklären, dass das Engagement im Para Schwimmen in solche einem Fall nicht die anderen Aktivitäten im Schwimmsport ersetzen soll, sondern als Ergänzung zu verstehen ist. Aktive können die Vorzüge „beider Welten“ erleben und bspw. gleichsam ihre Heimmannschaft bei Deutschen Mannschaftsmeisterschaften im DSV-Bereich unterstützen und als Para Schwimmerinnen und Para Schwimmer Erfolge im Behindertensport feiern.
Paralympics-Sieger Taliso Engel (Startklasse S13) vom TSV Bayer 04 Leverkusen gehört zur erweiterten Spitze über 100 m Brust im DSV-Bereich (hier startet er für die SG Mittelfranken) – bei einem optimalen Rennen ist für ihn über seine Hauptstrecke eine Finalplatzierung bei Deutschen Meisterschaften denkbar (Foto: Michael Lapp).
Im Regelsport sorgen immer wieder Sportlerinnen und Sportler in jungen Jahren durch beeindruckende Leistungen und Rekorde für Aufsehen, was häufig durch frühe biologische Entwicklungsfaktoren bedingt ist und selten zu späterem Erfolg im Spitzenbereich führt (Brustio et al., 2021). Diese Einflüsse sind auch im Para Schwimmen denkbar, wobei die Klassifizierung bzw. Startklasse hier einen noch stärkeren Einfluss haben kann: Bei günstiger Klassifizierung können ggf. sehr früh Kadernormen erbracht und damit angenehme Förderleistungen wie Lehrgänge zugesprochen werden. Dies ist auch denkbar, wenn Bekenntnis und Bindung zur Sportart von Sportlerinnen und Sportlern und Eltern noch gar nicht stark ausgeprägt sind und bspw. nur wenige Trainingseinheiten in der Woche nötig waren, um diese Leistung zu erreichen. Nicht selten tritt im Para Schwimmen eine solch frühe Leistungsauffälligkeit auf, was durch den kleinen Personenkreis (unabhängig der Startklasse) und die im Vergleich zum Regelsport relativ niedrigen Kadernormen im Nachwuchsbereich noch verstärkt wird. Von Seite des olympischen Sports wird dies mitunter feindlich aufgenommen, da es allzu einfach wirken könnte im Para Sport erfolgreich zu sein. Dies darf aber unter keinem Umstand den Blick auf die langfristige Perspektive der schwimmsportlichen Ausbildung mit den nötigen Steigerungen an Trainingsumfängen etc. verstellen: Es ist zu vermitteln, dass auch im Para Schwimmen vergleichbare Aufwände wie im olympischen Sport notwendig sein werden, um bis in den Hochleistungsbereich vorzudringen und den Anschluss an die sich weltweit stetig verbessernde Spitze zu erreichen.
Mitunter kann es dann sogar für einzelne Aktive günstiger sein, zunächst in der höheren Startklasse eingestuft zu sein, um einen zu frühen Aufstieg im Kadersystem zu vermeiden und die Motivation für kommende Trainingsetappen bzw. die weitere Leistungsentwicklung aufrechtzuhalten. Da in Kindheit und Jugend die Klassifizierung in regelmäßigen Abständen wiederholt wird, ergeben sich ausreichend Möglichkeiten, um auch zu einem späteren Zeitpunkt die niedrigere Klasse zu erhalten (bspw., wenn durch degenerative Aspekte der Behinderung erwartbar ist, dass sich die Funktionsfähigkeit in einzelnen Bereichen noch verschlechtern wird). In jedem Fall sollten Aussagen zur etwaigen Startklasse und damit möglichen Erfolgsaussichten von Seite der Trainerinnen und Trainer ausbleiben: Diese sind in der Regel keine Klassifizierinnen und Klassifizierer und können daher keine verbindlichen Aussagen treffen. Sie können und sollen Informationen zum Hintergrund und zur Durchführung bereitstellen. Die Entwicklung von Erwartungshaltungen bei Sportlerinnen, Sportlern und Eltern hinsichtlich einer spezifischen Startklasse birgt das große Risiko für Enttäuschungen , wenn das offizielle Ergebnis am Ende anders ausfällt als erhofft.
Das relevante Streckenprogramm im Para Schwimmen ist abhängig von Festlegungen auf internationaler Ebene, d.h. inwiefern Startklassen mit einzelnen Strecken im paralympischen Programm berücksichtigt werden. In der Vergangenheit existierten deutlich mehr Startklassen und Schwimmstrecken (Events) bei geringeren Teilnehmerzahlen (vgl. Abb. 42), was innerhalb von Startklassen zu wenig Konkurrenz führte und für Beobachter den Schluss nahebrachte, dass hier alle startenden Athleten auch mit einer Medaille nach Hause fahren konnten: Dementsprechend haftet dem Para Sport mitunter bis heute der abwertende Ruf an, dass Leistungen in ihrer Wertigkeit nicht mit denen aus dem Regelsport vergleichbar wären bzw. leistungssportliche Prinzipien nicht zum Tragen kommen. Dem ist in großen Teilen zu widersprechen: Mittlerweile ist die Anzahl der Medaillenentscheidungen bei Paralympics bei steigenden Teilnehmerzahlen auf einem stabilen Niveau fixiert, sodass auch die Breite innerhalb der Startklassen stetig anwächst. Wahr ist aber auch, dass insbesondere in niedrigen Startklassen für Menschen mit schweren Behinderungen naturgemäß nur geringe Teilnehmerzahlen aufzuweisen sind.[1] Selbst auf Ebene von Europa- und Weltmeisterschaften ist es daher nicht selten, dass Vorläufe entfallen und Medaillen in direkten, mitunter nicht vollbesetzten Endläufen vergeben werden. Hier sei jedoch zur Relativierung auf die mögliche Einordnung der Wettkampfleistungen durch Punktwerte hingewiesen, die bspw. auch in den deutschen Kaderkriterien eine wesentliche Bedeutung haben.
In Tabelle 21 ist außerdem ersichtlich, dass das Leistungsniveau in der Spitze wie in der Breite im Vergleich zum olympischen Bereich eine deutlich höhere Variabilität aufweist. Gründe hierfür sind der geringere Personenkreis (auch in höheren Startklassen), aber auch mögliche Veränderungen der Klassifizierungsbestimmungen, was schon beim Wechsel eines einzelnen Athleten zu markanten Veränderungen innerhalb des Leistungsgefüges einer Startklasse führen kann.
[1] Die Weltrangliste für die Startklasse S2 der Herren zählt im paralympischen Jahr 2021 bspw. nur 17 Schwimmer.
Abbildung 42
Medaillenentscheidungen bei Paralympics von 1960 bis 2016. Events im Para Schwimmen mit rotem Anteil (Baumgart et al., 2022).
Männer 100 F |
S4 |
S10 |
S12 |
Olympische Spiele |
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|
Siegleistung (s) |
Abstand Platz 8 (s) |
Siegleistung (s) |
Abstand Platz 8 (s) |
Siegleistung (s) |
Abstand Platz 8 (s) |
Siegleistung (s) |
Abstand Platz 8 (s) |
2008 |
1:24,67 |
12,63 (15,0%) |
0:51,3 |
4,30 |
0:51,93 |
6,77 (13,0%) |
0:47,21 |
1,12 |
2012 |
1:24,28 |
4,35 |
0:51,07 |
3,66 |
0:51,40 |
4,54 |
0:47,52 |
0,92 |
2016 |
1:23,36 |
10,90 (13,1%) |
0:51,08 |
3,96 |
0:50,90 |
3,83 |
0:47,58 |
0,83 |
2020 |
1:23,93 |
11,34 (12,5%) |
0:51,57 |
3,74 |
0:53,84 |
7,18 (13,3%) |
0:47,02 |
1,08 |
Tabelle 21
Darstellung der Entwicklung von Siegleistungen und achtem Platz ausgewählter Startklassen über 100 m Freistil der Paralympics und olympischen Spiele 2008 – 2020. Prozente der Siegleistung in Bezug zur Siegleistung der vorangegangenen Siegleistung (vorherige Paralympics), Prozente des achten Platzes in Bezug zur Siegleistung desselben Jahres.
Durch die steigenden Teilnehmerzahlen bei Paralympics über alle Sportarten hinweg und gelegentliche Änderungen bei Startklassen und Klassifizierungsbestimmungen, ergibt sich für das Internationale Paralympische Komitee und dessen Abteilung World Para Swimming regelmäßig die Herausforderung über neue Startklassen und deren mögliche Events zu entscheiden. Im Para Schwimmen bezieht sich dies vor allem auf die möglichen Events, was zur Folge hat, dass nicht in allen Startklassen auch alle Strecken angeboten werden können (vgl. Tab. 22). Für kleinere Startklassen für Schwimmerinnen und Schwimmer mit schweren Behinderungen kann dies leicht begründet werden, da komplexere Schwimmarten wie Brust oder Schmetterling hier nur von wenigen Sportlerinnen und Sportlern ausgeführt werden können. Die Limitierung ist ansonsten vor allem durch organisatorische Vorgaben bestimmt: Bei einer Öffnung des Streckenprogramms wäre die Dauer der Veranstaltung zu groß. Außerdem könnte sich auch das Leistungsniveau innerhalb der Events wieder verringern, wenn für den überschaubaren Personenkreis innerhalb einer Startklasse mehr Strecken zur Auswahl stehen und sich nur wenige Schwimmerinnen und Schwimmer auf die einzelnen Events verteilen.
M |
50 F |
100 F |
200 F |
400 F |
50 R |
100 R |
50 B |
100 B |
50 S |
100 S |
150 L |
200 L |
S1 |
|
|
|
|
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|
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S2 |
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S3 |
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S4 |
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S5 |
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S6 |
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S7 |
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S8 |
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S9 |
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S10 |
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S11 |
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S12 |
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S13 |
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S14 |
|
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W |
50 F |
100 F |
200 F |
400 F |
50 R |
100 R |
50 B |
100 B |
50 S |
100 S |
150 L |
200 L |
S1 |
|
|
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S2 |
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S3 |
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S4 |
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S5 |
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S6 |
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S7 |
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S8 |
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|
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|
S9 |
|
|
|
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S10 |
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S11 |
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|
S12 |
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S13 |
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S14 |
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Tabelle 22
Darstellung der Events für die Paralympics 2024 in Paris für Männer und Frauen. Die Bezeichnungen für Brust- und Lagenwettbewerbe wurde nicht explizit eingefügt (bspw. 100 B der S9 als SB9 zu lesen). In grün sind Strecken markiert, die auch 2020 in Tokio geschwommen wurden. Rot markierte Events sind aus dem Programm gestrichen worden.[1]
[1] Gestrichen wurden außerdem sämtliche Staffelwettbewerbe für Männer und Frauen (insgesamt 4 Staffeln). Um mehr Nationen an Staffeln teilhaben zu lassen und das Leistungsniveau zu heben, werden in Paris ausschließlich Mixed-Staffeln geschwommen (insgesamt 6 Staffeln).
Dies stellt einen weiteren markanten Unterschied zum olympischen Schwimmen dar, bei dem das Streckenprogramm nur selten Veränderungen erfährt. Für Paralympics sind teils gravierende Veränderungen zu jedem Höhepunkt erwartbar, deren Mitteilung durchaus kurzfristig erfolgen kann. Planungen bzw. Planbarkeit im Spitzenbereich werden somit vor besondere Herausforderungen gestellt und direkte Einflüsse auf nationale Kaderkriterien sind die Folge. Durch das Streckenprogramm entstehen somit kuriose Situationen (vgl. Tab. 22): Frauen der Startklasse S7 können keine Rückenstrecken schwimmen, Männer der Startklasse S10 stehen mit 50 und 100 m Freistil nur Sprintstrecken zur Auswahl, Frauen der S12 haben kein einziges Lagenrennen etc. Diese Einschränkungen sind damit ein wenig zu entkräften, dass jeder Startklasse eine Teilnahme an den Events der nächsthöheren Startklasse offensteht. Grundsätzlich findet dann die Konkurrenz mit Sportlerinnen und Sportlern statt, die nominell weniger Funktionseinschränkungen aufweisen. In der Praxis zeigt sich aber immer wieder, dass dort auch Sportlerinnen und Sportler der niedrigeren Startklasse wettbewerbsfähig sein können und sogar Medaillen erringen.
Justin Kaps vom Berliner Schwimmteam vertrat Deutschland bei den Paralympischen Spielen 2021 in Tokio sehr erfolgreich mit einem 7. Platz über die 400 Freistil. Seine Hauptstrecke wird in Paris 2024 nicht Teil des Wettkampfprogramms sein, sodass der Mittelstreckler nun auf den deutlich kürzeren Strecken angreifen will.
Hinsichtlich des besonderen Wettkampfprogramms könnte geschlussfolgert werden, dass Sportlerinnen und Sportler frühzeitig eine besondere Spezialisierung erfahren sollten. Dem ist klar zu widersprechen: Da Veränderungen des Streckenprogramms in der Zukunft nicht berechenbar sind, sollte die Ausbildung von Nachwuchsathletinnen und -athleten umso mehr der Vielseitigkeit dienen, damit auf etwaige Veränderungen besser reagiert werden kann. Der Fokus auf paralympische Strecken wird ohnehin erst mit dem Erreichen der höchsten Kaderstufen relevant. Für die unteren Nachwuchskaderstufen auf Landes- und Bundesebene werden immer auch nicht-paralympische Strecken als Kriterien angelegt, sodass bei Wettkämpfen im gesamten Streckenprogramm vielfältige Startmöglichkeiten bestehen.
Hinsichtlich der Vergleichbarkeit von Schwimmleistungen und bspw. auch der Normierung von Kaderkriterien, kommen spezielle Punktwertungen zum Einsatz. Bei Wettkämpfen ist dies vor allem außerhalb der internationalen Höhepunkte relevant, wenn startklassenübergreifende Wertungen erfolgen. Für die Punktwertungen existieren verschiedene nationale und internationale Standards, die z. T. zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können (vgl. Tab. 23).
Siegleistungen 100 B Tokyo |
Elena Semechin (Krawzow) |
Maisie Summers-Newton |
Startklasse |
SB13 |
SB6 |
Weltrekord |
1:09,57 |
1:29,87 |
Zeit |
1:13,46 |
1:32,34 |
DBS-Punkte |
849 |
934 |
IPC-Punkte |
1026 |
1025 |
Tabelle 23
Vergleich zweier Siegleistungen der Paralympics 2020 in Tokyo über 100 m Brust der Daen: Bei gemeinsamer Wertung beider Sportlerinnen würde in einem Multiclass-Wettkampf je nach verwendeten Punktesystem ein unterschiedliches Klassement entstehen.