Para
Schwimmen
Sehbehinderungen
Überblick
Eine Sehbehinderung wird am besser sehenden Auge bei bestmöglicher Korrektur (Brille, Kontaktlinse) und im Vergleich zu einem Menschen mit normalem Sehvermögen eingestuft. In Deutschland gilt demnach ein Mensch als sehbehindert, wenn nicht mehr als 30% des Restsehvermögens vorliegt. Bei weniger als 5% Restsehvermögen gilt ein Mensch als hochgradig sehbehindert und bei nicht mehr als 2% Restsehvermögen als blind. Diese Grenzwerte und Bezeichnungen sind national wie international unterschiedlich (vgl. Tab. 11) und ebenfalls abweichend von den Klassifizierungskriterien im Para Schwimmen.
Sehbehinderungen können verschiedenste Ursachen und dabei die unterschiedlichsten Auswirkungen haben. Ein Sehvermögen von weniger als 5% kann z. B. bedeuten, dass der Mensch mit Sehbehinderung einen Gegenstand erst aus 5m Entfernung erkennt, den ein normal sehender Mensch bereits aus 100 m erkennt. Ein Sehvermögen von weniger als 5% kann aber auch bedeuten, dass ein Mensch (wie durch einen Tunnel) nur 5% des normalen Gesichtsfeldes sieht (Mauschitz et al., 2019; vgl. Abb. 24)[1].
[1] Der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) bietet online einen Sehbehinderungs-Simulator an, der die Auswirkungen der fünf häufigsten Sehbehinderungsarten wahrnehmbar macht.
Abbildung 24
Visualisierung verschiedener Ausprägungen bei eingeschränkter Sehschärfe (SS) bzw. eingeschränktem Sichtfeld (SF) in Referenz zur normalen Sehfähigkeit (mittleres Bild).
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WHO-Grad |
Visus A |
Deutschland |
ICD-10 |
WHO |
USA |
|
0 |
≤0,5 |
- |
- |
- |
„low vision“ |
|
1 |
≤0,3 |
Sehbehinderung B (auch bei gleich zu bewertenden GF-Ausfällen) |
mittelschwere Sehbeeinträchtigung |
„moderate visual impairment“ |
- |
|
2 |
≤0,1 |
- |
schwere Sehbeeinträchtigung |
„severe visual impairment“ |
„legal blindness“ |
|
3 |
≤0,05 |
hochgradige Sehbehinderung B (auch bei gleich zu bewertenden GF-Ausfällen) |
hochgradige Sehbehinderung |
„blindness“ (auch bei GF ≤10°) |
- |
|
4 |
≤0,02 |
Blindheit (oder Visus ≤0,033 und ein Restgesichtsfeld nicht über 30° oder Visus ≤0,1 und ein binokulares GF unter 7,5° in jede Richtung) |
Blindheit |
- |
- |
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5 |
keine LSW |
- |
- |
- |
- |
|
GF = Gesichtsfeld LSW = Lichtscheinwahrnehmung A = bestkorrigierter Visus des besseren Auges B = Regelung auf Ebene der Bundesländer |
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Tabelle 11
Definition von Sehbehinderung und Blindheit nach WHO-Grad in Deutschland, international und in den USA (Mauschitz et al., 2019).
Die Zahl der Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit in Deutschland kann nur geschätzt werden, da sie nicht gezielt erfasst wird. 2019 wurden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland ca. 75.000 blinde Menschen, 50.000 Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung und 450.000 sehbehinderte Menschen erfasst. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) sieht diese Zahlen als gesicherte untere Grenze an und vermutet deutlich höhere Zahlen, da in diese Statistik nur Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis einfließen, welchen aber viele Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit nicht besitzen (DBSV). Schätzungen und Hochrechnungen gehen von etwa 1,2 Millionen Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit in Deutschland aus (Rehadat). Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft sowie zivilisations- bzw. wohlstandsbedingten Krankheitsbildern dürfte diese Zahl in Zukunft steigen (vgl. Abb. 25; Naipal & Rampersad, 2018).
Abbildung 25
Hauptursachen von Erblindung und hochgradiger Sehbehinderung für Nordrhein-Westfalen (Mauschitz et al., 2019): Die altersabhängige Makula-Degeneration, das Glaukom (grünem Star) sowie diabetischen Augenerkrankungen sind zusammen zu etwa zwei Dritteln für Erblindung und hochgradige Sehbehinderung verantwortlich, wobei alle drei Ursachen eng mit dem Altersgang und Lebensgewohnheiten zusammenhängen.
Menschen, die mit einer Sehbehinderung oder blind auf die Welt kommen, werden durch die Einschränkung in ihrer motorischen Entwicklung stark beeinflusst. Es ist belegt, dass wichtige motorische Meilensteine wie die Kontrolle des Kopfes, das Sitzen, Stehen oder Gehen im Vergleich zu sehenden Kindern später erreicht werden. Die motorische Entwicklung dieser Personengruppe stellt noch eine große Forschungslücke dar (Hallemans, 2015). Deutliche Rückstände bei grobmotorischen Grundfertigkeiten sind auch im späten Kindes- und Jugendalter erwartbar, eine ältere Untersuchung stufte die Motorik der untersuchten Kinder zu 97% als gestört ein (Hering, 1993), was vor allem auf Bewegungsmangel zurückzuführen ist. Entsprechend wichtig ist neben der spezifischen (Früh-) Förderung auch die Anbindung an den organisierten Sport, in dem Kinder mit Sehbehinderung oder Blindheit ein erhöhtes Risiko besitzen ausgeschlossen zu werden (Giese & Herrmann, 2020).
Johannes Weinberg vom TV Immenstadt kam sehend auf die Welt und erblindete im Kindesalter binnen weniger Wochen. Zwischen 2018 und 2021 vertrat er Deutschland erfolgreich bei Welt- und Europameisterschaften.
„Ich gehe gerne ins Risiko und bin jemand, der selbst gerne aktiv wird. Dass ich früher gesehen habe, hilft mir heute beim Sport natürlich sehr. Mein Umfeld hat mich auch mit der Behinderung nie „in Watte gepackt“, was ich bei anderen Blinden manchmal erlebe. Ich denke, dass das Para Schwimmen für blinde Menschen eine großartige Gelegenheit ist, den eigenen Körper kennenzulernen und sich richtig auszupowern.“
Orientierung
Orientierung ist die zentrale Herausforderung für Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit, sodass dies auch eine Schlüsselaufgabe für Trainerinnen und Trainer darstellt. Sportlerinnen und Sportler mit leichteren Sehbehinderungen können dabei ihren Alltag und sportliche Aktivitäten oft ohne größere Einschränkungen bewältigen. Für Außenstehende sind sie u.U. gar nicht oder nur bei genauer Beobachtung als sehbehindert wahrnehmbar.
Auch Menschen mit schweren Sehbehinderungen oder Blindheit können sich in vertrauten Umgebungen sicher und weitestgehend selbstständig bewegen. Diese Vertrautheit muss jedoch entwickelt werden und bedarf Unterstützung von außen.
Die Orientierung betrifft die typischen Wege in den Trainingsstätten mit den örtlichen Gegebenheiten. Ändern sich Umgebungsbedingungen, muss dieser Prozess wiederholt werden. Dies wird z. B. regelmäßig bei auswärtigen Wettkämpfen und Trainingslagern der Fall sein. Idealerweise steht für diese Aufgabe eine externe Person zur Verfügung (Elternteil, feste Betreuungsperson[1]), um Trainerinnen und Trainer zu entlasten und möglichst keine Abhängigkeit von ihm oder ihr zu schaffen. Sollen Sportlerinnen und Sportler von einem Führungshund unterstützt werden, sollte dies vorab mit dem Badbetreiber o.ä. abgestimmt werden.
[1] Auf Wettkämpfen im Para Sport sind häufig Tandems aus einer blinden Person und einer Person im Rollstuhl zu sehen: Die Person im Rollstuhl fungiert als Guide für die Orientierung der blinden Person, während diese durch Anschieben die Person im Rollstuhl unterstützt.
Fragen Sie einen blinden Menschen, ob Sie ihm helfen können, bevor Sie etwas für ihn tun – aus Respekt vor ihm und seiner persönlichen Freiheit.
Im Trainingsbetrieb eröffnen sich großartige pädagogische Möglichkeiten bei der Unterstützung von Schwimmerinnen und Schwimmern mit Sehbehinderung, indem dabei Mitschwimmerinnen und Mitschwimmer eingebunden und Tandems gebildet werden. Dies entlastet nicht nur Trainerinnen und Trainer in der Betreuung, sondern kann auch förderliche Impulse für Gemeinschaftsgefühl und Gruppenzusammenhalt liefern. Mit einer sich einspielenden Selbstverständlichkeit bei den unterstützenden Maßnahmen werden außerdem allgemein Hemmschwellen im Umgang mit Behinderung abgebaut, da Verständnis für besondere Bedarfe entstehen kann.
Sehenden Sportlerinnen und Sportler kommt dabei bei Bedarf die Aufgabe zu, Programmpunkte vorzulesen oder zu wiederholen und bei Einhaltung von Pausen und Abgangszeiten zu assistieren (eine ähnliche Leistungsfähigkeit bzw. Schwimmgeschwindigkeit beider Schwimmenden sollte gegeben sein). Es ist darauf zu achten, dass der sehende Part im Tandem möglichst regelmäßig wechselt (bspw. wöchentlich), um keine Abhängigkeiten zu entwickeln und innerhalb der Gruppe diese Aufgabe nicht als Last für Einzelne zu vermitteln (die gruppenpädagogisch positiven Effekte wären dann hinfällig).
Technik & Training
Für Sportlerinnen und Sportler mit Sehbehinderung oder Blindheit sollten alle Schwimmarten nach Leitbild erwartet und nach gängigen Lehrwegen vermittelt werden. Da aber motorische Grundfertigkeiten mitunter nicht altersgerecht entwickelt sind und deren Ausprägung durch den (teilweise) fehlenden visuellen Reiz erschwert ist, besteht eine fortwährende Schlüsselaufgabe in der Vermittlung von Bewegungs- und Körpergefühl. Ein deutlich längerer Lernprozess ist daher erwartbar für Blinde sowie Sportlerinnen und Sportler, deren Sehbehinderung von Geburt an besteht.
Eine einfache und effektive Möglichkeit für die Entwicklung des Körpergefühl bieten die Methoden des propriozeptiven Trainings (Fletcher, Gallinger & Prince, 2021): Propriozeption beschreibt dabei die Fähigkeit den eigenen Körper und dessen Teile bewusst hinsichtlich von Positionen, wirkenden Kräften oder auftretenden Geschwindigkeiten wahrzunehmen. Das Training der Propriozeption dient daher der Tiefenwahrnehmung und wird auch sensomotorisches Training genannt. Die Propriozeption von Menschen mit Sehbehinderung ist naturgemäß eingeschränkt, da der visuelle Reiz für die Integration anderer sensorischer Informationen entscheidend ist, bei ihnen jedoch fehlt oder nur schwach wahrgenommen werden kann. Typische Inhalte des Trainings dienen der Entwicklung von Balance und Konzentration, was für Sportlerinnen und Sportler mit Sehbehinderung hinsichtlich der Standstabilität und Sturzprophylaxe zudem für den Alltag sehr zuträglich sein kann.
Einfachste Übungen (bspw. ein einbeiniger Stand) können bereits ausreichende Herausforderungen für die Sportlerinnen und Sportler bieten und leicht ins Landtraining oder in Erwärmungen integriert werden. Für die Auswahl und Progression geeigneter Übungen kann sich an den Leitsatz aus dem allgemeinen Koordinationstraining gerichtet werden, dass der Sportler nah an die Grenze der möglichen Informationsverarbeitung geführt werden soll – d.h. Übungen sollten ausreichend anspruchsvoll sein, um einen wirksamen Reiz zu setzen. Hilfsmittel wie Kipp- und Wackelbretter oder unebene Untergründe (Weichboden o.ä.) können die Schwierigkeit ebenso erhöhen wie der Einsatz von Kleingeräten und Alltagsmaterialien (vgl. Abb. 26 & 27).
Hinsichtlich der Konzentration kann propriozeptives Training auch in jede andere Form des Landtrainings integriert werden, das ohne Materialien auskommen muss (bspw. allgemeines Athletiktraining, Stabi-Training). Hier sollte der Fokus immer wieder auf die Wahrnehmung bestimmter Teilaspekte von Bewegungen, Körperpositionen etc. gelenkt werden. Dies ist abzugrenzen von reinen Bewegungsanweisungen zur Ausführung, die Wahrnehmung der Sportlerinnen und Sportler soll gezielt auf den eigenen Körper gelenkt werden: Sportlerinnen und Sportler mit Sehbehinderung können gänzlich abweichende Wahrnehmungen von den eigenen Bewegungen haben (bspw. von der Position einzelner Körperteile).
Abbildung 27
Sportlerin mit Sehbehinderung (Startklasse S13) in Ausgang- und Endposition bei einem Niederhochsprung. Neben der grundlegenden Zielstellung dieser Übung (explosiver Absprung vom Boden, kurze Bodenkontaktzeit) liegt der Fokus auf dem Einfinden und Einhalten einer stabilen Position in der Landung (eigene Aufnahmen).
Ähnlich wie Sportlerinnen und Sportler mit körperlichen Behinderungen, kann die Einschätzung von Körperhaltung und Gangbild bei Schwimmerinnen und Schwimmern mit Sehbehinderung ein lohnender Ansatz sein, um schon an Land erste Rückschlüsse auf die Wasserlage und nötige Korrekturen im Wasser zu erlangen. Insbesondere von Geburt an blinde Menschen können eine leicht vorgelehnte statt gerade Körperhaltung aufweisen. Außerdem ist das Gangbild häufig nicht flüssig, weil Ängste vor Kollisionen bestehen und Hindernisse antizipiert werden müssen. Ähnliche Hemmungen zu dynamischen Bewegungen können auch im Wasser auftreten.
Abbildung 26
Sportlerin mit Sehbehinderung (Startklasse S13) beim Balance-Training auf dem Wackelbrett. Eine Stange dient als Unterstützung und sorgt jederzeit für nötigen Halt (eigene Aufnahmen).
Visuelle Hilfsmittel und Demonstrationen in der Gruppe werden für Schwimmerinnen und Schwimmer mit Sehbehinderung von geringem Nutzen sein. Konkrete und umfassende verbale Anleitungen (die eine Demonstration in der Regel begleiten) können aber auch von blinden Sportlern nachvollzogen werden und sind daher umso wichtiger. Dies ist vor allem der Fall, wenn Sportlerinnen und Sportler die Behinderung erworben haben und in der Vergangenheit sehen konnte: Die Fähigkeit zum Visualisieren ging dann nicht verloren, sodass typische räumliche und gegenstandsbezogene Bewegungsanweisungen funktionieren („Strecke dich flach wie ein Brett.“, „Blick zur Decke.“). Bei leichterer Sehbehinderung sollten auch visuelle Rückmeldungen (Demonstrationen, Lehrmittel, Videofeedback) genutzt werden.
Manche Menschen neigen im Gespräch mit Menschen mit Sehbehinderung dazu, ihre Sprache in Lautstärke, Tempo oder Intonation zu variieren, weil die Information dann vermeintlich besser übermittelt und verstanden wird. Menschen mit Sehbehinderung sind aber nicht taub, sodass eine angepasste Sprache nicht notwendig ist. Besonders laute, langsame oder betonte Anweisungen führen eher zu Verständigungsproblemen.
Bei Blindheit und schwerer Sehbehinderung kommt haptischem Feedback eine zentrale Rolle zu. Zum einen kann dies bedeuten, dass Trainerinnen und Trainer die Schwimmerinnen und Schwimmer händisch durch die Zielbewegungen führen, was sowohl an Land als auch im Wasser geschehen kann. Dieses Vorgehen ist auch bei Menschen ohne Behinderung nicht untypisch und es kann spezifisch auf die Besonderheiten der Bewegung (Dynamik, Krafteinsatz) eingegangen werden. Andererseits können Trainerinnen und Trainer oder auch Mitschwimmerinnen und Mitschwimmer als „Anschauung“ dienen, indem sie die Bewegungen selbst ausführen und Sportlerinnen und Sportler mit Sehbehinderung diese durch Körperkontakt nachempfinden. Weitere Hilfsmittel können kreativ eingesetzt werden, um die Entwicklung der Bewegungsvorstellungen zu unterstützen. So kann bspw. ein Stück Wellblech dafür dienen, um die Delfinbewegung taktil nachzuempfinden.
Über die Auswertung von Videoaufnahmen und Experteninterviews konnte eine russische Forschungsgruppe (Vinokourov, Mosunov & Tveryakov, 2022) identifizieren, in welchen Technikelementen Schwimmerinnen und Schwimmern mit Sehbehinderung oder Blindheit des Spitzenbereichs typischerweise vom Leitbild abweichen und welche Ursachen hierfür angenommen werden können: Sie stellten muskuläre Verspannungen fest, die aufgrund von Angst vor Kollisionen entstehen und zu einer ungünstigen Wasserlage führten. Fehlwahrnehmungen der eigenen motorischen Fertigkeiten machten sie verantwortlich für abweichende Ausführungen bei Arm- und Beinbewegungen (bspw. Amplitude der Beinarbeit, Gelenkwinkel in Knie und Ellenbogen). Die Angst vor möglichen Kollisionen an der Wand/Wende beeinträchtigte Rhythmus, Schwimmgeschwindigkeit und Frequenz. Unabhängig einer Zuordnung zu Kollisionsängsten oder Falschwahrnehmungen konnten große intrazyklische Geschwindigkeitsschwankungen festgestellt werden. Die Autoren stellen dabei heraus, dass sie eine komplette oder zumindest teilweise Korrektur dieser Abweichungen und Fehlerbilder durch individuelles Techniktraining und allgemeine Konditionierung für möglich halten (vgl. Tabelle im Anhang für spezifische Abweichungen und Korrekturmaßnahmen). Dieser Hinweis ist bemerkenswert, da selbst in einer führenden Nation des Para Schwimmens wie Russland unter den besten Sportlerinnen und Sportlern mit Sehbehinderungen große Leistungsreserven zu bestehen scheinen, die mit eher einfachen und bekannten Mitteln ausgeschöpft werden könnten.
Sprünge stellen sowohl an Land als auch im Wassertraining eine enorme Herausforderung für Sportlerinnen und Sportler mit Sehbehinderung und Blindheit dar – insbesondere, wenn die Sehbehinderung nicht erworben wurde und die Athletinnen und Athleten niemals gesehen haben. Enorme Hemmnisse können dann vorherrschen, sodass schon die Lernprozesse einfachster Sprungformen an Land bis hin zu leitbildgerechten Startsprüngen ins Wasser sehr zeitintensiv sein können und kleinschrittige Vermittlungsformen nötig werden. Unter Umständen verbieten auch ärztliche Verordnungen das Springen (an Land) zeitweise oder dauerhaft (bspw. bei einer Netzhautablösung oder nach deren operativer Korrektur), was vorab in Erfahrung gebracht werden muss.
Sind Startsprünge erlernt, stellen sie selbst bei geübten Sportlerinnen und Sportlern stetig eine Herausforderung mit viel Fehlerpotenzial dar. So ist selbst im Spitzenbereich gelegentlich zu beobachten, dass ein Sportler nach dem Startsprung auf der Nachbarbahn auftaucht, weil der Sprung nicht geradlinig und mittig der eigenen Bahn vollzogen oder die Körperhaltung in der Tauchphase aufgrund fehlender Orientierung falsch gesteuert wurde. Dieser Extremfall des Verlassens der eigenen Bahn stellt auch bei Wenden ein großes Risiko dar. Sowohl bei Start als auch bei Wenden kann hierfür ursächlich sein, dass sich zu einer Seite der Bahn bzw. zu einer Leine orientiert wird. Dieses Verhalten entspricht dem aus dem Training (Kreisverkehr) und ist grundsätzlich angeraten: Blinde Schwimmerinnen und Schwimmer erfahren durch das nahe Schwimmen an der Leine eine wichtige Orientierung und können so besser eine geradlinige Fortbewegung umsetzen. Beim Schwimmen an der Leine bleibt es in der Regel nicht bei einem sachten Kontakt, sondern Armzüge können auch auf oder in der Leine landen. Schwimmen Sportlerinnen und Schwimmer auf der Nebenbahn an der gleichen Leine, sind auch hier kleinere Kollisionen von Armen oder Beinen über wie unter Wasser erwartbar, was im Wettkampf nicht zur Disqualifikation führt, sofern niemand auf der benachbarten Bahn behindert wird. Diese Komplikationen sind schwer vermeidbar und sollten auch hinsichtlich der technischen Güte von Schwimmbewegungen in Kauf genommen werden, da der Vorteil der Orientierung diese Nachteile überwiegt.
Strategisch kann sowohl der aus dem Training bekannte Kreisverkehr zur Anwendung kommen als auch ein gezieltes Schwimmen auf nur einer Seite der Bahn. Letztere Option verspricht weniger zusätzliche Schwimmstrecke, da der Schwimmer nicht von der geradlinigen Schwimmrichtung abweichen muss. Ein Schwimmen im Kreisverkehr muss aber nicht zwangsläufig ungünstiger sein, wenn die Wenden mittig der Bahn ausgeführt werden (analog zum Anschwimmen der Wenden im Training).
Um das Risiko des Verlassens der eigenen Bahn zu minimieren, sollten die Tauchphasen bei den Wenden durch Schwimmerinnen und Schwimmer mit Blindheit kurzgehalten werden. Ein kräftiger, flacher Abstoß oder wenige Delfinkicks bei geradliniger Schwimmrichtung genügen, um in die Gesamtbewegung zurückzukehren und anschließend wieder Kontakt zur Leine aufzubauen. Beim Startsprung sollte eine längere Tauchphase allerdings genutzt werden, sofern ein geradliniger Absprung realisiert werden kann. Für Schwimmer mit Restsehvermögen (Startklassen S12 und S13) sollten die Unterwasserphasen entsprechend ausgebildet werden.
Tapping
Tapping (aus dem Englischen für Antippen) steht für das taktile Signalgeben bei Wende und Anschlag, um Sportlerinnen und Schwimmer mit Sehbehinderung oder Blindheit ihre Position zur Wand zu vermitteln. Dies erfolgt je nach Streckenlänge durch bis zu zwei Helfende (Tapperinnen und Tapper), die von der Startbrücke bzw. Wendenseite agieren. Für blinde Sportlerinnen und Sportler der Startklasse S11, die mit verdunkelten Brillen schwimmen müssen, ist das Tapping verpflichtend. Sportlerinnen und Sportler der Startklassen S12 und S13 können Tapping in Anspruch nehmen (auch ohne mit verdunkelter Brille zu schwimmen), wenn sie im Klassifizierungsprozess die entsprechende Exception beantragt und zugesprochen bekommen haben.