Para
Leichtathletik
5.3.1 | Sprint-/Lauf-Stehend-Disziplinen
Der stehende Sprint ist eine der Hauptdisziplinen der Para Leichtathletik, die in verschiedenen Startklassen in den 10er, 20er, hohen 30er, 40er, 60er und 70er-Startgruppen absolviert wird. In allen diesen Disziplinen ist der grundsätzliche Bewegungsablauf mit dem von Athleten ohne Beeinträchtigung, aber auch innerhalb der verschiedenen Startklassen ähnlich. Daher gehen wir von der Standardbeschreibung der Sprinttechnik aus und formulieren im Anschluss Abweichungen bzw. Besonderheiten für einzelne Startklassen.
5.3.1.1 Beschreibung Wettkampftechnik Sprint
Da Endbeschleunigung und Höchstgeschwindigkeit die zentralen Leistungsfaktoren für den Sprint sind, wird die Technik, bei der die Höchstgeschwindigkeit realisiert wird, zum Ausgangspunkt, ja zur Philosophie des Sprints genommen. Auf die übrigen Techniken (Start, Startbeschleunigung, Finish) soll nachfolgend eingegangen werden.
Die traditionelle Unterscheidung des Sprintschritts in vier Phasen wird in jüngerer Zeit um eine fünfte Phase ergänzt bzw. die vordere Schwungphase in den Vor-Hochschwung des Knies sowie das Ausgreifen und zum Boden Hin-Arbeiten des Beins unterteilt (siehe RTP Sprint, 2012):
- vordere Stützphase
- hintere Stützphase
- hintere Schwungphase
- vordere Schwungphase Kniehubphase aktiv-greifende Phase
Diese Phasen werden nachfolgend beschrieben und anhand von Bildreihen bzw. Videoclips visualisiert. Dabei wird insbesondere auf die Bewegung der Beine eingegangen.
Bildreihe 1 Fliegender Sprint Johannes Floors (Böhle/OSP Rheinland)
Vordere Schwungphase, aktiv-greifende Bewegung: Aus der oberen Knieposition (Bildreihe 1, Bild 1 und 6) pendelt der Unterschenkel aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit (Trägheit) nach vorn (Bild 2 und 6). Doch werden das Auspendeln des Unterschenkels, die Kniestreckung und damit die Schrittlänge nicht maximiert. Vielmehr wird in Vorbereitung der Landung durch die ischiocrurale Muskulatur eine Rückschwungbewegung des ganzen Beins realisiert (Bilder 3 und 8). Bessere Sprinter weisen eine höhere Rückschwunggeschwindigkeit auf. Damit wird die Horizontalgeschwindigkeit vor dem Fußaufsatz annähernd neutralisiert und werden allzu große horizontale Bremskräfte beim Fußaufsatz vermieden, nicht zuletzt die Schrittfrequenz erhöht.
Vordere Stützphase: Der Fuß setzt mit nur geringem Bremsstoß auf dem Vorder- bzw. Mittelfuß nahe vor der vertikalen Projektion des Körperschwerpunktes auf (Bild 4 und 9). Um unnötige Vertikalbewegungen zu vermeiden, muss im Moment der maximal auftretenden vertikalen Bodenreaktionskräfte eine hohe Stabilität/geringes Nachgeben in Fuß-, Knie- und Hüftgelenk sowie im Rumpf sichergestellt werden. So wird der beim Fußaufsatz entstehende Landedruck schnell amortisiert und die Bremswirkung klein gehalten. Durch das energische Nach-Hinten-Führen des Beins mittels hoher Aktivität der Hüftstrecker und der ischiocruralen Muskulatur wird der Gesamtkörper über das Stützbein nach vorn beschleunigt, der Vorderstütz schnell überwunden und in den Hinterstütz übergeleitet.
Hintere Stützphase: Die hintere Stützphase beginnt definitionsgemäß, wenn das Stützbein die KSP-Senkrechte erreicht bzw. sich beide Knie auf einer Höhe befinden (Bild 4). Das stützende Bein wird bei leichter Streckung des Kniegelenks energisch weiter nach hinten bis zur Fußstreckung und zum Lösen vom Boden geführt (Bilder 5–6). Die schnelle Rückführung des Stützbeins wird durch die Schwungbewegungen des freien Beins und der diagonal geführten, gebeugten Arme unterstützt.
Hintere Schwungphase: Mit dem Lösen des Abdruckbeines vom Boden beginnt die hintere Schwungphase (Bilder 6–7 bzw. 1–2). Eine ausreichend große Schrittlänge bei hoher Frequenz ist nur möglich, wenn das Bein nach dem Lösen vom Boden schnell nach vorn geführt wird. Dabei ist die Knieaktivität (Anfersen) mit der Hüftaktivität (Knie vor-hochbringen) verbunden. Nach dem Abdruck vom Boden muss der Hüftwinkel durch die hüftbeugende Muskulatur schnell verringert werden. Zugleich wird das Bein im Knie angewinkelt, um es als kurzes Pendel schnell nach vorn (Bilder 2–4), später nach oben führen zu können. Die hintere Schwungphase wird so kurz gehalten und Zeit für die vordere Schwung-Zugphase und damit den Vortrieb gewonnen. Das Anfersen des Unterschenkels unter dem Gesäß führt erst zu einer Entspannung der Knie- und Hüftstrecker, dann – in der maximalen Beugeposition – zu ihrer optimalen Vordehnung (Bild 4 und Bild 9).
Vordere Schwungphase, Kniehub: Mit dem Passieren des Stützbeinknies beginnt die vordere Schwungphase. In der Vorschwungphase erreicht das Schwungbein eine doppelt so hohe Geschwindigkeit wie der Gesamtkörper (Bilder 3–6). Das stark gebeugte Bein wird nach vorn-oben geführt, bis Oberschenkel und Knie die obere Position knapp unterhalb der Waagerechten erreicht haben (Bild 1 und Bild 6). Wichtig ist ein großer Abstand zwischen Stütz- und Schwungbein, damit die Arbeitsmuskulatur optimal vorgedehnt wird und vom Wendepunkt an Richtung Boden arbeiten kann. Der Kniehub ermöglicht mit den im Stütz des anderen Beins entwickelten horizontalen Beschleunigungskräften eine den individuellen Voraussetzungen entsprechende Schrittlänge.
Unterscheidung Nachwuchs- und Spitzensprinter
Bessere Sprinter weisen höhere Hüftstreck- und -beugegeschwindigkeiten auf, entsprechend können sie ihre Beine schneller vor- und zurückführen. Zugleich haben Topsprinter unmittelbar vor und während der Stützphase einen konstanteren Kniewinkel und setzen den Fuß näher an der KSP-Projektion auf. Nachwuchssprinter dagegen vollführen eine langsamere Greif- und Zugbewegung, während der Stützphase geben sie im Kniewinkel bis zur Amortisation nach und strecken das Knie im Hinterstütz deutlich. Die Zielvorstellung des greifend-ziehenden Sprintstils kann also erst auf fortgeschrittenem Niveau realisiert werden. Sie bedarf entsprechender konditioneller Voraussetzungen und koordinativ-technischer Grundlagen, die erst im Laufe des Nachwuchstrainings erarbeitet werden müssen.
Aktivität von Rumpf und Armen
Im vollen Sprint ist der Oberkörper aufrecht bzw. weist nur eine leichte Vorlage auf. Die Nacken- und Halsmuskulatur erscheinen entspannt. Der Kopf wird ruhig, mit dem Blick in Laufrichtung gehalten. Durch die aufrechte Rumpfhaltung verlagert sich die Schwung-Zug-Arbeit der Beine nach vorn, vor den Körper, die US-Biomechaniker Mann und Murphy (2022) sprechen von „Front Side Mechanics“. Dadurch kann, obwohl der Fußaufsatz nah an der KSP-Projektion erfolgt, die Hüft-/Beinmuskulatur effektiver als in deutlicher Rumpfvorlage arbeiten. Auch wenn Arme und Beine jeweils maximal schnelle Vor-/Rück- bzw. Auf-/Ab-Bewegungen ausführen, bewegt sich der Körperschwerpunkt (KSP) weitgehend geradlinig in horizontaler Richtung, weicht also nur geringfügig nach oben bzw. unten bzw. nach links oder rechts von dieser Linie ab. Eine hohe Rumpfstabilität (-kraft) und eine gute Koordination ermöglichen diese Feinsteuerung der Sprintbewegung.
Zusatztechniken Sprint
Neben der Sprintlauftechnik erfordern die einzelnen Disziplinen noch weitere spezifische Bewegungsweisen im Sinne von „Zusatztechniken", die nachfolgend beschrieben werden:
- Tiefstart
- Start- und Pick-Up-Beschleunigung
- Kurvensprint
- Zielannahme
Start
In der Para Leichtathletik ist es den Athleten überlassen, einen Tiefstart aus dem Startblock oder einen Hochstart auszuführen (Hochstart siehe Kap. 5.3.2 Lauf).
Tiefstart: Auf-die-Plätze-Position. Um nicht unnötig Raum zu verschenken, rückt der Sprinter die Startblöcke relativ dicht an die Startlinie. Der vordere Block ist eineinhalb bis zwei Fußlängen, der hintere Block zweieinhalb bis drei Fußlängen von der Startlinie entfernt. Daraus resultiert ein mittlerer Abstand zwischen beiden Blöcken von einer halben bis einer Fußlänge. Die Steilheit der Abdruckflächen sichert eine gute Vorspannung und dient zur Steuerung der Abdruckrichtung (Bildreihe 2, Bild 1).
Bildreihe 2 Start und Start beschleunigung (Böhle/OSP Rheinland)
Fertigposition. In der dem Start unmittelbar vorausgehenden Fertig-Position wird das Becken angehoben und der KSP nach vorne geschoben, so dass das Körpergewicht auf Armen und Beinen ruht, aber gerade kein Übergewicht nach vorn entsteht (Bild 2). Die Aktionsmuskulatur an Beinen und Rücken ist vorgespannt und erhöht leistungsbereit. Steilere Abdruckflächen der Blöcke verbessern die Abdruckrichtung im Sinne der Horizontalen, erfordern dann aber auch einen etwas größeren Abstand zur Startlinie. Günstig für einen explosiven Start erscheinen:
- Relativ offene Kniewinkel (vorn: ca. 90, hinten: ca. 110 Grad)
- Beckenposition oberhalb der Schulterachse
- Eine geringe Schultervorlage (über die Startlinie) mit moderater Belastung der Arme
- KSP-Projektion deutlich vor dem vorderen Fuß
- Kopfhaltung entspannt und achsengerecht
Start-Beschleunigung. Bei hoher Konzentration auf das Startsignal gelingt durch die in der „Fertig!“-Position (Bild 2) erreichte Vorspannung insbesondere der Streckmuskulatur an Beinen und Rumpf ihre schnellstmögliche Kontraktion. Nach gleichzeitigem Beginn der Kraftentwicklung beider Beine erfolgt etwa zum Zeitpunkt des Kraftmaximums am hinteren Block der Abdruck der Hände vom Boden, verbunden mit einem geringfügigen Anheben des Oberkörpers (Bild 3).
Das hintere Bein löst sich nach kurzem, sehr intensivem Abdruck bei nur geringer Kniewinkelöffnung vom hinteren Block (Bild 4). Der Kniewinkel des vorderen Beines ist bis zu diesem Zeitpunkt nahezu konstant. Erst wenn das hintere Bein im Vorschwung das vordere Bein überholt, beginnt dieses sich zu strecken. Der Oberkörper ist zu diesem Zeitpunkt noch fast waagerecht, um eine tiefe Lage des Körperschwerpunktes und damit eine hohe horizontale Kraftkomponente am Ende des Abdrucks sicherzustellen. Der Kopf bleibt bis zum Ende des Abdrucks in Normalhaltung.
Die hohe Kraftentwicklung des vorderen Beines wird durch das Vorschwingen des hinteren Beines positiv beeinfl usst und führt zu seiner völligen Streckung am Ende des Abdrucks (Bild 5). Der schnelle Vorschwung des hinteren Beines erfolgt fl ach, d. h. sein Fuß kommt nicht über Kniehöhe des vorderen Beines (Bilder 6–7). Der erste Fußaufsatz erfolgt kurz hinter der Startlinie steil auf dem Ballen. Der Kniewinkel beträgt zu Stützbeginn 110 – 120°. Der Körperschwerpunkt befindet sich noch deutlich vor der Fußaufsatzstelle, um Bremskräfte zu vermeiden (Bild 7). Der Armeinsatz erfolgt rechtwinklig im Ellbogen gebeugt in Laufrichtung. Den maximalen Vor- bzw. Rückschwung erreichen die Arme kurz vor der Abdruckstreckung des vorderen Beines. Die vordere Hand kommt dabei bis in Kopfhöhe, der gebeugte hintere Arm erheblich darüber. Die Oberkörpervorlage wird auf den ersten Schritten in Abhängigkeit von den Kraftfähigkeiten des Sportlers beibehalten bzw. nur allmählich aufgegeben, um eine möglichst große horizontale Beschleunigungskomponente im Abdruck realisieren zu können (Bilder 8–9). Die Fußkurve des Schwungbeins in der Flug- und Stützphase der beiden ersten Schritte wird zur Erhöhung der Schrittfrequenz weiterhin flach gestaltet. In der hinteren Schwungphase pendelt der Unterschenkel nur bis zur Waagerechten. Der Fuß wird aktiv aufgesetzt und die Ferse während des Stützes nicht abgesenkt (Bild 9).
Das kontinuierliche Anwachsen der Schrittlänge in der Startbeschleunigung ist ein wesentliches Kriterium einer effektiven Tiefstarttechnik. Die Schrittverlängerung wird mit wachsender Geschwindigkeit des Athleten durch die zunehmende Ausprägung des Kniehubs und durch stärkeres Vorpendeln des Unterschenkels in der vorderen Schwungphase unterstützt. Parallel dazu wird der Oberkörper kontinuierlich aufgerichtet.
Nach ca. 20 m ist diese Phase abgeschlossen und die Pick-Up-Beschleunigung beginnt. Die Bewegungsausführung ähnelt schon weitgehend dem fliegenden Sprint (Beschreibung siehe oben), doch steigt die Geschwindigkeit weiter an und vergrößern sich die Schrittlängen, bis die Maximalgeschwindigkeit erreicht ist und 20 bis 30 m erhalten werden kann. In der Phase der Ermüdung nimmt beides wieder ab.
Kurvensprint
Im Kurvensprint gelten die gleichen Bewegungsoptionen wie im Geradeauslauf, also aktiv hoher Knieeinsatz, greifender Fußaufsatz, energisches Ziehen des Stützbeins nach hinten und früher Abdruck, unterstützt durch den gegengleichen energischen Armeinsatz. Dazu muss sich der Athlet entsprechende des Kurvenradius‘ leicht nach links in die Kurve lehnen, dies möglichst ohne im Rumpf abzuknicken (Abb. 5.20). Damit er die Richtungsänderung gleichmäßig gestalten kann, dreht er im Kurvenlauf die Außenschulter leicht nach vorne ein. So kann er in jedem Kurvenschritt dieselbe minimal Richtungsänderung vornehmen. Dies ist auf der Innenbahn stärker ausgeprägt als auf den äußeren Bahnen. Bei Steilkurven in der Halle erübrigt sich diese Verwringung. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Athleten angehalten werden, die Kurve so zu laufen, dass ein Betreten der inneren Bahnmarkierung vermieden wird.
Abb. 5.20 Kurvensprints zur Technik- und Schnelligkeitsschulung
Zielannahme
Die Wettkampfregeln schreiben vor, dass der Zieleinlauf und damit die Platzierung der Athleten anhand des Rumpfes ermittelt wird, wenn er die senkrechte Ebene über dem startnäheren Rand der Ziellinie erreicht. Daraus ergibt sich für den Sprinter die Orientierung, die Ziellinie mit möglichst großer Oberkörpervorlage zu passieren. Dies erreicht er durch das Vorbeugen des Oberkörpers im Hüftgelenk. Zugleich werden beide Arme nach hinten geführt. Dabei ist zu beachten, dass das Einnehmen einer ausgeprägten Oberkörpervorlage in der Stützphase Drehmomente bewirkt, deren Beherrschen in der Phase höchster Geschwindigkeit erhebliche konditionelle und koordinative Anforderungen stellt (Sturzgefahr). Die Zielannahme verlangt schließlich ein räumlich-zeitlich exaktes Timing, da ein zu frühes Einleiten einen Geschwindigkeitsrückgang schon vor der Ziellinie bedeutet, ein zu spätes zu Zeitund evtl. auch Platzierungsverlust führt.
Abb. 5.21 Finish im 100-m-Sprint (btr)
5.3.1.2 Methodik der sprinttechnischen Ausbildung
Das schnelle wie das ausdauernde Laufen sind für Kinder und Jugendliche gewöhnlich keine „neuen“, erst zu lernenden Bewegungstechniken, sondern werden schon früh, nachdem die Kinder gehen und stehen können, und bereits vor dem Kontakt mit einem Sportverein, in der Familie durch Aufforderung und Nachahmung erworben und im Kindergarten durch Fangspiele gefestigt. Insofern erfordert es keine Methodik des Technikerwerbs, wohl aber der technischen Korrektur und Verfeinerung der laufenden Bewegung. Ausgangspunkt der Technikoptimierung im Sprint ist nicht der Start, der viel Kraft erfordert, sondern das schnelle „fliegende Laufen“. Das wird im Sprinttechniktraining zunächst bei submaximalen Geschwindigkeiten durch die Beachtung einzelner technischer Merkmale wie dem schnellen Vor-Hochbringen des Knies, der aktiv-ziehenden Beinarbeit oder dem energischen Armeinsatz vor dem Körper trainiert. Z. T. kommen auch Hilfsmittel wie Bodenmarkierungen (Abb. 5.22), mit denen die Schrittlängen vorgegeben werden, zum Einsatz.
Abb. 5.22 Hütchen markieren die vorgegebenen Schrittlänge
Da es sich um zyklische Bewegungen handelt, können Korrekturen nicht nur vor- und nach dem einzelnen Lauf, sondern auch während der Bewegungsausführung als Verstärkung hereingerufen werden. Die Kommandos ergeben sich aus der Technikbeschreibung, z. B.: „Knie höher“, „greifender Fuß-Aufsatz“, „Arme kürzer und energischer“. Zur Optimierung von Start, Beschleunigung und maximalen Sprint hat der Sprinttrainer ein differenziertes spezielles Übungsgut zur Verfügung, das wir nachfolgend darstellen wollen. Zuvor möchten wir allerdings auf Besonderheiten des Sprints in einzelnen Startgruppen bzw. für die jeweiligen Formen der Beeinträchtigung eingehen.
5.3.1.3 Technische Besonderheiten einzelner Startgruppen
Sehbeeinträchtigung. Für Athleten mit Sehbeeinträchtigung gelten die vorigen Ausführungen uneingeschränkt, jedoch angepasst auf die jeweiligen individuellen athletischen und technisch-koordinativen Voraussetzungen. Eine Besonderheit stellen die Athleten der Klasse 11 sowie ein Teil der Klasse 12 dar, die mit einem Guide an den Start gehen und laufen. Zum Zwecke der Synchronität der Bewegungen muss der leistungsstärkere Guide seine Bewegungen eng an die seines Athleten mit Sehbeeinträchtigung anpassen. Wie im allgemeinen Sprinttechniktraining wird die Synchronisierung der Bewegungen von Athlet und Guide bei Steigerungsläufen und im freien Sprint geübt. Erst allmählich tastet sich das Paar an maximale Geschwindigkeiten und dann an Wettkämpfe unter maximaler Anspannung heran (Abb. 5.23).
Abb. 5.23 Synchroner Sprint von Guide und Athlet mit Sehbeeinträchtigung (btr)
Hat man im freien schnellen Lauf ein gutes Zusammenspiel erreicht, kann man sich an „Sonderaufgaben“ wie Start, Kurvenlauf und Finish heranwagen. Das Starttraining beginnt bei der abgestimmten Startblockeinstellung und den Startkommandos. Es setzt sich in der Reaktion auf den Startschuss und in der Startbeschleunigung fort (Abb. 5.24). Im Kurvensprint läuft der Guide aufgrund seiner höheren Leistungsfähigkeit in der Regel außen, muss also einen längeren Weg zurücklegen. Im Finish muss der Guide hinter seinem Athleten zurückbleiben, damit dieser die Zeitmessung auslöst, ansonsten droht die Disqualifikation.
Bei deutlichen Unterschieden in der Körpergröße bzw. der Bein- und Armlängen gelingt die Synchronisation der Bewegung in Höchstgeschwindigkeit nur nach vielmaligem gemeinsamem Üben in mittleren bis hohen Intensitäten inklusive aufbauender Wettkämpfe.
Bei allzu abrupten, dabei unterschiedlichen Armbewegungen kann das Bändchen reißen bzw. von der Hand rutschen, was zu Disqualifi kation der Athleten führt. Das gilt es unbedingt zu vermeiden.
Abb. 5.24 Durch vielmaliges gemeinsames Starten wird der Bewegungsablauf von Athletin mit Sehbehinderung und Guide synchronisiert
Intellektuelle Beeinträchtigung. Für Athleten mit intellektueller Beeinträchtigung gelten die Ausführungen der Technikbeschreibung uneingeschränkt, jedoch angepasst auf die jeweiligen individuellen athletischen und technisch-koordinativen Voraussetzungen.
Durch die Defizite bei der Körperwahrnehmung und Bewegungssteuerung verlangsamen sich die motorischen Lern prozesse bei Athleten mit zerebraler Beeinträchtigung bzw. müssen die Trainer für den Erwerb einzelner Fertigkeiten, angefangen bei Skippings über Steigerungsläufe bis zum freien Sprint mehr Zeit bzw. mehr Übungseinheiten einplanen. Bewegungskorrekturen müssen behutsam vorgenommen, an das Aufnahme- und Lernvermögen der Athleten angepasst werden. Dazu achtet der Trainer auf eine einfache, gut verständliche Sprache.
Auch muss einmal Gelerntes regelmäßig wiederholt werden, damit es nicht verloren geht. Längere Zeiten der Inaktivität wirken sich negativ auf die Technik und Leistung aus. Ähnliches gilt für die Athleten der Startklasse T35–38 mit entsprechenden Einschränkungen.
Zerebrale Beeinträchtigung. Das Aufwärmen und Warmhalten der Muskulatur sind im Training und Wettkampf von Sprintern mit zerebralen Beeinträchtigungen von besonderer Bedeutung, da sich eine Spastik bei kalter Muskulatur verstärken kann. Bei den Athleten mit stärkerer zerebraler Beeinträchtigung, insbesondere mit ausgeprägter Hemiplegie (einseitiger Lähmung) sowie auf andere Weise einseitig beeinträchtigten Sportlern, z. B. solchen mit Versteifung eines Beins, aber auch einseitig Armamputierten Sportlern ist die gleichmäßige Sprintbewegung gefährdet. So droht ein hinkender Lauf mit unruhiger KSP-Lage, verstärkter Rumpfrotation, seitlichem Ausweichen/Schwanken mit Nachteilen für die Geschwindigkeit. Auch besteht eine erhöhte Sturzgefahr, der man mit besonderer Aufmerksamkeit und längeren Pausen begegnet. Unebene Böden sollten vermieden werden.
Um die Unterschiede zwischen beiden Körperseiten auszugleichen und eine zumindest annähernd gleichförmige Bewegung zu realisieren, die den optimalen Vortrieb und Erhalt der Höchstgeschwindigkeit sicherstellt, ist ein verstärktes Koordinations- und technikbetontes Sprinttraining erforderlich.
Armamputierte Athleten. Auch die armamputierten Sportler orientieren sich am eingangs vorgestellten Sprintmodell. Die Hände und Arme sind vergleichsweise leichte Körperteile, doch wird durch die hohe Geschwindigkeit beim Vor- und Rückschwung der Arme eine hohe Energie erzeugt, die bedeutsam für den Vortrieb und im Diagonaleinsatz für das Gleichgewicht bei hoher Geschwindigkeit ist. Durch das Fehlen einer Hand, des Unteroder sogar des Oberarms droht daher eine zunehmende Unwucht und Unruhe des Oberkörpers, die sich nachteilig auf die Geschwindigkeit auswirken kann. Einige Sprinter nutzen deshalb während des gesamten Laufes eine Armprothese bzw. -orthese für eine gleichmäßigere Gewichtsverteilung (Abb. 5.25). Andere Sportler verlagern den Oberkörper minimal zur Seite des amputierten Arms, um die Unwucht zu vermeiden. Eine dritte Strategie ist ein stärker diagonaler, gebeugter Einsatz des längeren Arms.
Abb. 5.25 Sprint mit Armprothese zur gleichmäßigeren Gewichtsverteilung für beide Arme
Abb. 5.26 Athletinnen mit Armamputation können ohne oder mit Armprothese starten/laufen
Bei einer beidseitigen, ähnlich hohen Armamputation gibt es kein Seitigkeitsproblem, jedoch können die verkürzten Arme den hohen Druck der alternierend arbeitenden Beine nicht ausgleichen, so dass der Oberkörper ins Taumeln zu geraten droht. Durch Ausgleichsbewegungen der Armstümpfe und des Rumpfes muss der Athlet den seitlichen Stößen entgegenwirken, um die vortriebssichernde Beinarbeit weiter wirken zu lassen. Hier muss der Athlet während des Laufes situativ optimierende Entscheidungen treffen.
Bildreihe 3 Sprinttechnik mit einer Oberschenkelprothese mit Kniegelenk Leon Schäfer (Böhle/OSP Rheinland)
Amputierte Athleten mit Beinprothesen. Bei den amputierten, mit einer oder zwei Unterschenkelprothesen bzw. mit einer Oberschenkelprothesen mit Kniegelenk versorgten Para Sprintern ist die Sprinttechnik ähnlich der Technik von nicht-behinderten Sprintern. Auch sie sind um ein aktiv-greifenden Fußaufsatz und eine ziehende Beinarbeit vom Vorder- zum Hinterstütz bemüht. In den Bildreihen 1 und 3 ist jeweils für das vordere, rechte Bein der greifend Fußaufsatz (Bilder 2–4) und das aktive Nachhinten-Ziehen vom Vorder- (Bild 4) über den Mittel- (Bild 5) zum Hinterstütz (Bild 6) zu beobachten. Beim einseitig oberschenkel-amputierten Sprinter erkennt man, dass er sein intaktes Bein (Bildreihe 2, Bilder 3–4), stärker als das amputierte, prothesenversorgte Bein (Bilder 8–9) anferst. Letzteres geschieht, weil die Prothese leichter ist und bei stärkerem Anfersen zu schnell vorliefe, was den Lauf zusätzlich unrhythmischer machen würde. Ein anderes Laufbild zeigen die beidseitig oberschenkelamputierten Sprinter, weil sie (aktuell) mit Prothesen ohne Kniegelenk laufen. Sie müssen das Bein aus der Hüfte nach vorn pendeln, wobei die Prothese nach außen rotierend nach vorn geführt wird. Dies ist beim Start besonders schwierig, ermöglicht aber im freien Sprint mit raumgreifenden Schritten relativ hohe Geschwindigkeiten (siehe Tab. 5.5).
Alle Prothesensprinter haben im Vergleich zu Sprintern ohne Prothese einen Nachteil am Start, da die Prothese aus der Ruheposition wenig Kraft abgibt und in den ersten Schritten durch die Belastung mit dem Beinstumpf und Gewicht des gesamten Körpers Energie aufnehmen muss, um sie danach abgeben und für einen normalen schnellen Sprint wirksam werden lassen zu können. Dies wirkt sich in den einzelnen Startklassen unterschiedlich aus (wie man es auch an den 100-m-Rekordzeiten ablesen kann, Tab. 5.5):
- Sprinter mit nur einer Unterschenkelprothese haben den geringsten Nachteil am Start, da sie mit dem intakten Bein Druck aufbauen und die Prothese belasten können, sie beschleunigen aber deutlich langsamer als Sprinter ohne Beeinträchtigung
- Sprinter mit zwei Unterschenkelprothesen können ihre Prothesen nur mit den Knie und Oberschenkeln belasten und beschleunigen entsprechend langsamer, können dann aber, im freien Sprint, durch die gleichmäßige Belastung beider Prothesen eine sehr hohe Maximalgeschwindigkeit entwickeln
- Sprinter mit einer Oberschenkelprothese haben einen kürzeren Wirkarm als die unterschenkelamputierten Sprinter, entsprechend brauchen auch sie länger, bis sie ihre Endgeschwindigkeit erreichen
- Sprinter mit zwei Oberschenkelprothesen ohne Kniegelenke benötigen die längste Zeit bzw. Strecke für die Beschleunigung, da sie die Bewegung nur aus dem Hüftgelenk bzw. mit den vergleichsweise kurzen Oberschenkelstümpfen steuern können
Abb. 5.27 Sprinter mit zwei Oberschenkelprothesen ohne Kniegelenk (btr)
Abb. 5.28 Angewandte Stabilität: Storchengang in Zeitlupe mit Haltephasen entwickelt zugleich Gleichgewicht und Rumpfstabilität
Möchte ein beinamputierter Sportler das Sprinten mit einer Sportprothese erlernen, ist zunächst eine umfangreiche, meist mehrmonatige Phase komplexer Rumpfkräftigung („Stabi“) erforderlich, da:
- Die Unterstützungsfläche der Prothese erheblich kleiner als die Fußsohle ist
- Die Dämpfung der Kraftstöße beim Bodenaufsatz geringer ist bzw. die Kraftstöße über die Prothese vektoriell anders auf den Körper übertragen werden, wodurch
- Die Körperachse instabiler und störanfälliger ist
Das Übungsprogramm dazu besteht aus variantenreichen Programmen der Kraftgymnastik mit statischen Halte- und dynamisch-rotatorischen Kräftigungsübungen wie dem Unterarmstütz, Sit-Ups oder vielseitigen Medizinballwürfen (Übungsgut s. u., Kap. 6, Athletik). Erst wenn auf diese Weise eine hohe Rumpfstabilität entwickelt worden ist, sollte das Training mit der Sportprothese beginnen. Während der gesamten Sportkarriere bleibt das umfangreiche Stabi-Programm mehrfach pro Woche ein ständiges Element im Training der Prothesensprinter.
Parallel zur Rumpfkräftigung müssen die Athleten mit Prothesen lernen, die Bodenreaktionskräfte, die durch den Einsatz des elastischen Prothesenfußes ausgelöst werden, zu beherrschen. Idealerweise ist die Prothese so zusammengebaut, dass die Wirkung des Fußes dem Anwender dazu verhilft, die in der Stütz- bzw. Belastungsphase aufgenommene Energie beim Lösen vom Boden wieder abzugeben.
Tab. 5.5 100-m-Weltbestleistungen in den unterschiedlichen Startklassen (nach www.paralympic.org, 2023)
5.3.1.4 Spezifische Trainingsmittel für den Sprint stehend
Trainingsmittel zur Entwicklung der Sprintschnelligkeit
Ausgehend von den individuellen Voraussetzungen in koordinativ-technischer und konditioneller Hinsicht wird die individuelle Zieltechnik angesteuert. Dabei hat der Trainer verschiedene Möglichkeiten bzw. Trainingsmittel, um diesen Prozess zu befördern:
- Koordinationsläufe
- Fliegende Sprints
- Beschleunigungsläufe
- Starttraining
- Sprint-ABC
- Kombinationen und Übergänge
- Frequenzwechsel, Ins-and-Outs
- Sprint mit Rhythmusübungen
- Hürdensprint und -koordination
- Abschließende Koordinationsläufe
Nachfolgend werden eine Reihe von Sprint-Trainingsübungen beschrieben, die zur Technikschulung und -optimierung, zugleich aber auch zur Schnelligkeitsausprägung geeignet sind. Beides kann man nicht voneinander trennen, daher gibt es gewisse Überschneidungen mit dem Übungsgut zur Schnelligkeitsentwicklung, wie es in Kap. 6 beschrieben ist.
1. Koordinationsläufe
Einen zentralen Stellenwert für die technische Vervollkommnung des Sprintschritts besitzen die sogenannten Koordinationsläufe (Synonym Steigerungsläufe), bei denen nach „lockerer“, submaximaler Beschleunigung eine bestimmte Strecke in submaximaler Geschwindigkeit durchlaufen wird. Indem sich der Sprinter im Bereich unterhalb der Maximalgeschwindigkeit bewegt, hat er noch die Kontrolle über die Bewegungsausführung und kann einzelne Elemente der Sprinttechnik gezielt ansteuern und betonen. Dabei können verschiedenste Aufgabenstellungen bewusst geschult werden (z. B. Position des Oberkörpers, Armhaltung, schnelles Vorbringen des angefersten Beins, Betonung des aktiv nach hinten-unten ziehenden Beins, greifend scharrender Fußaufsatz, Ansteuerung der Gesäßmuskulatur im Moment des Fußaufsatzes im Vorderstütz, energisches Durchziehen des Beins im Stütz, optimaler Beugewinkel der Arme, dynamischer Armeinsatz, Betonung der Schrittlänge-/ Frequenz usw.). Die Aufgabe ist es, einzelne, bei Fortgeschrittenen mehrere dieser Elemente der Sprinttechnik bewusst in sehr guter Qualität und bei hohem, fast maximalen Lauftempo zu realisieren. Die Streckenlängen sollten so gewählt werden, dass keine starke Ermüdung bzw. Übersäuerung einsetzt. Bei submaximaler Geschwindigkeit kann diese Strecke länger als bei annähernd maximaler Geschwindigkeit sein, beim 15jährigen zwischen 50 und 70 m, beim 19jährigen zwischen 60 und 90 m liegen. Um eine kumulierende, von Lauf zu Lauf anwachsende Übersäuerung zu vermeiden, sollten die Pausen ausreichend lang, sein, ca. 5–8 min.
Abb. 5.29 Der schnelle Koordinationslauf entwickelt Sprinttechnik und Geschwindigkeit
2. Fliegende Sprints
Unter „fliegenden Läufen“ versteht man Sprints, bei denen nach ausreichender Beschleunigung (20–25 m) die Höchstgeschwindigkeit über eine definierte Strecke beibehalten wird. Mithilfe von Lichtschranken können die Leistungen präzise bestimmt und verglichen werden. Durch eine Verknüpfung von bewusst submaximaler und (ab 20 m) maximaler Beschleunigung kann die führende Rolle der Hüftstrecker in der Pickup-Beschleunigung und im maximalen Sprint besonders herausgearbeitet werden. Um Ermüdung und Übersäuerung zu vermeiden, sollte die bei Höchstgeschwindigkeit zu laufenden Strecke im Jugendbereich 25 m nicht übersteigen, da ja auch der vorige Anlauf bzw. die Beschleunigung energieverbrauchend ist.
Abb. 5.30 Fliegend-Sprint durch Lichtschranken
Einschub: Die Geschwindigkeitsbarriere
Im Laufe des Trainingsprozesses kann es, obwohl sich die konditionellen und z. T. sogar die allgemein koordinativen Voraussetzungen weiter verbessern, bezüglich der Geschwindigkeitsentwicklung zu Stagnationen bzw. zur sogenannten Geschwindigkeitsbarriere kommen. Die Ursache wird in einer zu häufigen Wiederholung maximaler Sprints gesehen, die zu einer Verfestigung des dynamisch-motorischen Stereotyps in räumlicher wie auch zeitlicher Hinsicht führen. Offenbar sind die Erregungsmuster im Zentralnervensystem bezüglich Schrittlänge und Frequenz zu sehr „eingeschliffen“. Hier ist zunächst ein Absetzen der maximalen Sprintintensitäten (incl. Wettkämpfe) und der intensiven Tempoläufe angebracht. Durch ein variables Training mit vielfältigem Übungsgut (Sprint-ABC, Steigerungsläufe, Frequenzwechselläufe), durch differentielles Lernen mit ständig wechselnden Koordinationsaufgaben im submaximalen, gelegentlich im supramaximalen Bereich sowie die weitere Verbesserung der konditionellen-koordinativen Voraussetzungen kann hier ein neues Ausgangsniveau geschaffen werden, von dem aus wiederum maximalen Beschleunigungen und Höchstgeschwindigkeitssprints angesteuert werden können.
3. Beschleunigungsläufe
Abläufe ermöglichen die Konzentration der Athleten auf einzelne Technikelemente bei wachsender Sprintgeschwindigkeit. Sie können aus dem Tief-, dem Dreipunkt-, Fall- oder kauernden Hochstart erfolgen. Besondere Augenmerke sind hier das allmähliche Aufrichten des Oberkörpers aus der Startvorlage, die gleichmäßige Schrittverlängerung bei hoher Frequenz, zugleich der kontinuierliche Übergang des Hauptantriebs von den Knie- zu den Hüftstreckern. Durch ein 5–8 m vom Start quer aufgehängtes Seil in 1,8–2 m Höhe, unter dem die Startenden durchlaufen müssen, kann das Unten-Halten des Oberkörpers erzwungen werden.
Abb. 5.31 Beschleunigungsläufe sind zentrale Elemente des Sprinttrainings
Die Beschleunigungslänge kann unterschiedlich gewählt werden, die Obergrenze ergibt sich in etwa aus der Strecke, die für das Erreichen der Höchstgeschwindigkeit erforderlich ist, dies ist bei Kindern nach 10–15 m, bei Jugendlichen nach 20–30 m der Fall. Bei älteren, trainierten Sprintern wird die Höchstgeschwindigkeit nach 25 bis 35 m erreicht. Im fortgeschrittenen Trainingsstadium (spezielle Vorbereitungsphase, Wettkampfphase) verknüpft der Trainer die maximale Beschleunigung mit einer Phase maximaler Geschwindigkeit, wobei die Gesamtstrecke alters- und entwicklungsbezogen so gewählt wird, dass keine Ermüdung einsetzt, d. h. für Jugendliche eine Gesamtstreckenlänge bis 40, bei leistungsstarken erwachsenen Sprintern bis 60 m. Auch sind Beobachtung, Analyse und Korrektur durch den Trainer wichtig, um die Technik auf einem optimalen Niveau zu erhalten. Hier leistet die Videoaufzeichnung und anschließende gemeinsame Auswertung wichtige Dienste (s. u., Kap. 8).
4. Starttraining
Auch wenn Start und Beschleunigung eng miteinander verbunden sind, sollte das Starten separat trainiert werden, um die volle Konzentration („Frische“) der Athleten zu gewährleisten. Durch Probieren und Variieren wird der optimale Blockabstand, die Steilheit der Startblöcke, das Gesäßanheben in der Fertigstellung bis zur Endposition vor dem Startschuss ermittelt und dann durch Wiederholen gefestigt. Auch das Abdrücken von den Blöcken, das schnelle erste Setzen und das Geduckthalten von Kopf und Oberkörper muss intensiv alleine geübt und optimiert werden. Ist auf diese Weise ein individuell optimales Bewegungsverhalten gefunden und gefestigt, kann das Starten und Beschleunigen zunächst allein bis zur 5- oder zur 10-m-Linie trainiert werden, z. B. mit zweimal vier Läufen mit einer Wiederholungspause von 3 und einer Serienpause von 10 min. Immer noch unterliegt der Sportler der Beobachtung und technischen Korrektur des Trainers. Ist die Bewegung so gefestigt, kann das Starten mit Konkurrenten trainiert werden. Das bereitet die Athleten nicht nur auf die Wettkampfsituation vor, sondern erzeugt eine erhöhte Motivation und Spaß im Training, insbesondere, wenn der Ausgang offen ist. So können noch einmal höhere Intensitäten erreicht werden.
Abb. 5.32 Das Starttraining in der Gruppe erhöht die Leistungsbereitschaft
5. Sprint-ABC
Das Sprint-ABC zählt zu den Vorbereitungs-Routinen im Training, dient als Bindeglied zwischen dem allgemeinen Aufwärmen und dem speziellen Training, und steht insofern – chronologisch gesehen – am Anfang des Sprinttrainings. Da es bezüglich der Dynamik und absoluten Geschwindigkeit weit vom normalen Sprinten entfernt ist, wird es – inhaltlich bzw. hierarchisch gesehen – den vorgenannten komplexen Sprintaufgaben nachgeordnet. Aufgrund der kleinräumigen Bewegungen können die Übungen des Sprint-ABC mit höheren Frequenzen und kürzeren Stützzeiten als im normalen Sprint ausgeführt werden. Dies darf aber nicht zum Selbstzweck degenerieren, schon gar nicht kontraproduktiv für die Sprinttechnik wirken, Vielmehr sollte das Sprint-ABC durch eine gezielte Übungsauswahl und Korrektur in die Technikentwicklung eingebettet werden. Die einzelnen Übungen dienen dann zur Vorbereitung und Schulung einzelner Phasen/Elemente der Sprintbewegung, z. B. aktiver Fußaufsatz, ziehender Stütz, An- bzw. Unterfersen des Unterschenkels und Kniehub sowie deren Verbindungen (Abb. 5.33 und 5.34 sowie Tab. 5.6).
Tab. 5.6 Zuordnung von Übungen des Sprint-ABC zu einzelnen Sprintphasen
Abb. 5.33 Skippings und Kniehebeläufe sind für Sprinter mit Prothese ein wichtiges Trainingsmittel zur Verbesserung des Schwungbeineinsatzes
Bei allen Übungen ist auf eine aktive, angezogene Fußspitze zu achten. Die Auswahl der einzelnen Übungen sollte unter Berücksichtigung der individuellen, aktuellen Notwendigkeiten der Sportler erfolgen und im zeitlichen Verlauf zur Wettkampfperiode hin komplexer werden. Die einzelnen Übungen werden zunächst in ihren Grundformen bei submaximaler Geschwindigkeit ausgeführt, damit die Sportler die Bewegungsausführung bewusst wahrnehmen, steuern und gegebenenfalls gemäß Traineranweisung gezielt korrigieren können. Erst wenn die Qualität der Bewegungsausführung zufriedenstellend ist, wird die Bewegungsschnelligkeit gesteigert bzw. die Aufgabenstellung variiert. Das Sprint-ABC kann vielfach variiert werden. Die Variationen betreffen die Ausführungsgeschwindigkeit, die Bewegungsamplitude (eng oder weit ausholend), die Laufrichtung (vor-, rück-, seitwärts, Kurve links, rechts oder Slalom), den Einsatz von Hindernissen (Brickets, Mini-Hürden, …), die Betonung (beide Beine gleich, nur links, nur rechts, jeden 3. oder jeden 5. Schritt), Zusatzaufgaben (Armhaltung), nicht zuletzt die Kombination verschiedener Grundformen. Durch so eine veränderte und erhöhte Reizsetzung wird das koordinative Vermögen der Sportler gefordert und verbessert. Dabei ist das Übungsgut dem Koordinationstraining der Sportler ohne Beeinträchtigung entlehnt (s. o.), Fußgelenksarbeit, Skippings, Unterfersen, Stechschrittprellen, Übungen des Hürden-Balletts, kleine beid- und einbeinige Sprünge sind sehr probate Mittel, die richtige Ansteuerung der Prothese bei steigender Geschwindigkeit zu erlernen. Bei der Ausführung beobachten Trainer und Athlet, inwieweit einzelne Übungen mehr oder weniger oder auch gar nicht geeignet sind und wählen entsprechend aus. Übungen des Sprint-ABCs, die bei weniger qualifizierten Athleten insbesondere zu Beginn des Techniktrainings zur Schulung einzelner Technikelemente eingesetzt werden, werden bei höher qualifizierten Sprintern vorrangig als Bestandteil technisch-koordinativ einstimmender Einlaufprogramme angewendet, können aber auch, bei entsprechender Ausführungsintensität und -dauer, zur gezielten Entwicklung spezieller konditioneller Fähigkeiten (besonders der Schnelligkeit und der Schnell-/Sprintkraftfähigkeit) eingesetzt werden.
Abb. 5.34 Übungsgut des Sprint-ABCs, Skippings, Anfersen, Stechschritt
6. Kombinationen und Übergänge
Generell kann man die Verbesserung im Sprint als fortgesetztes Ringen um das optimale Verhältnis von Schrittfrequenz und -länge bei sich verändernden, verbessernden Voraussetzungen verstehen. Das legt nahe, fließende Übergänge zwischen frequenzbetonten Übungen des Sprint-ABC und druck- bzw. zugbetonten Steigerungen hin zu hohen Geschwindigkeiten anzustreben. Dadurch kann das Verhältnis Schrittlänge/-frequenz immer neu bestimmt und optimiert werden. Dies erscheint insbesondere bei den sich fortgesetzt wandelnden Voraussetzungen im Jugendalter erforderlich. Aus dem Sprint-ABC kann man durch allmähliche Schrittlängenvergrößerung, durchaus mit räumlichen Hilfen (Hütchen), in den freien Sprint überwechseln (s. o.). Ähnlich kann man die Rhythmusübungen erst kleinräumig und schnell durchführen, dann bei größeren Schrittlängen und Geschwindigkeiten versuchen, die Frequenz hoch zu halten, z. B. Stechschrittprellen erst mit kleinen, schnellen, dann mit weit ausholenden, immer noch schnellen Bewegungen. Wichtig ist hier, dass sich die Sportler auch im Übergang zum freien Sprint bewusst um die Frequenzerhaltung bemühen. Ein Bruch am Ende des Frequenzteils mit nachfolgendem Neuansetzen für den Beschleunigungsteil würde den Effekt zerstören.
Abb. 5.35 Läufe über flache Markierungen mit Übergang in den Lauf
7. Frequenzwechsel, Ins-and-Outs
Bedeutsam für die Sprintverbesserung sind Tempo- und Frequenzwechsel innerhalb eines Laufes bei submaximaler und maximaler Geschwindigkeit. Während bei submaximaler Geschwindigkeit die technische Ausführung mit gegebenenfalls Korrekturen im Vordergrund steht, dient die maximale Intensität der Ausprägung der höchsten Sprintschnelligkeit. Auf vom Sportler und Trainer optisch z. B. durch Fahnenstangen oder Hütchen gut unterscheidbaren Streckenabschnitten müssen dann jeweils unterschiedliche Aufgaben ausgeführt werden. Die Wechsel können alle 20 oder 30 m erfolgen (Abb. 5.36).
Abb. 5.36 Frequenzwechselsprints mit Bodenmarkierungen für Druck- und Frequenzabschnitte
Eine bewährte Form sind „Ins-and- Outs“ mit den Phasen Beschleunigen, Kontrollieren und erneute Temposteigerung: Nach einem submaximalen/maximalen Beschleunigungslauf über 20–30 m erfolgt eine Phase mit kontrollierter Geschwindigkeit (20–30 m). In dieser Phase ist es wichtig, sich auf eine korrekte Bewegungsausführung des Sprintens und das „Sich-Treffen“ zu konzentrieren. Im Anschluss erfolgt eine erneute Beschleunigung in die höchste Geschwindigkeit. Dabei ist es wichtig, die jeweilige Geschwindigkeitserhöhung mit der greifenden Sprinttechnik (Bewegungsvorstellung „Rollerfahren“) zu realisieren. Im Unterschied zu den Ins-and-Outs bleibt bei „Frequenzwechselsprints“ die Intensität (Geschwindigkeit) hoch und nur der technische Schwerpunkt wechselt. Entsprechend kürzer müssen die Gesamtstrecken sein, sie liegen ähnlich den Koordinationsläufen bei 60, im fortgeschrittenen Stadium 80 m, jeweils einschließlich Beschleunigung. Wichtig sind wiederum die langen Pausen, da durch die wechselnden Aufgaben auch die psychische Beanspruchung und Ermüdung hoch sind. Frequenzorientiert sind auch sogenannte „Speeddrills“, bei denen einzelne Bewegungselemente des Sprints wie das Hochreißen des Knies, das Ausgreifen des Unterschenkels oder das scharrende Fußaufsetzen 20, 30 oder 50 mal nacheinander in hoher Frequenz auf der Stelle oder bei geringer Vorwärtsbewegung hüpfend ausgeführt werden. Ähnlich sind auch Zugbewegungen (Vor-Hochbringen des Schwungbeins) gegen einen leichten Widerstand (z. B. Gummiseil) hochfrequent, z. B. auf Zeit durchführbar.
8. Sprints mit Rhythmusaufgaben
Damit bestimmte Elemente der Sprintbewegung herausgearbeitet werden, können sie im freien Sprint oder mithilfe räumlicher Vorgaben bei submaximalen Geschwindigkeiten gezielt angesteuert werden. Um in der Vorschwungphase den Kniehub und das nachfolgende aktiv-scharrende Beinaufsetzen zu trainieren, eignet sich der Einsatz von (flachen) Mini-Hürden, Brickets oder flachen Hütchen. Die Abstände richten sich nach Alter und Leistungsniveau der Sportler. Jeweils über die Markierung bzw. das Hindernis wird mit dem einen Bein ein betonter Kniehub mit aktiv-ziehendem Fußaufsatz ausgeführt, zwischen den Blöcken wird mit dem anderen Bein ein eher passiver Schritt gesetzt. Beim Einsatz von niedrigen Hürden/Brickets läuft der Sprinter seitlich an diesen Hindernissen vorbei und muss auf der hürdennahen Seite das Schwungbein jeweils über die Hürde, dann aktiv zum Boden führen, wogegen das andere (Hinke-) Bein relativ passiv bleibt. Um die Geschwindigkeit entwickeln und halten zu können, muss der Sprinter mit dem aktiven Bein die Amplitude (Weite) der Schwungzugbewegung vor dem Körper vergrößern. In der Regel werden diese Läufe mit flachen Markierungen durchgeführt, wobei der Beineinsatz auf der Markierungsseite intensiver, entsprechend die Schrittlänge größer und auf der anderen Seite passiver bzw. kürzer ist (Abb. 5.37). Man spricht aufgrund der äußeren Erscheinung von asymmetrischen (ASL) oder Hinke-Läufen.
Abb. 5.37 Einseitiges Knieheben über Brickets bei steigender Geschwindigkeit
Das Training der a-rhythmischen Sprints/Hinkeläufe muss allmählich aufgebaut werden, um eine technisch gute Ausführung mit aktiver Schwung-Zugbewegung sicherzustellen. Im Fall der Hinkeläufe wird bei flachen Markierungen mit geringen Geschwindigkeiten (3 m/s, ähnlich Sprint-ABC) bzw. kurzen Abständen (2 m für den Doppelschritt) begonnen. Nur langsam werden der Abstand der Markierungen (2.3, 2.6, 3.0 m) und die Geschwindigkeit größer. Die Streckenlängen sollten ebenfalls zu Beginn kurz sein (30–40 m) und allmählich bis 100 m, bei Spitzenathleten 120 m gesteigert werden. Da die Übung beidseitig ausgeführt wird, genügen 3 Läufen je Seite bzw. Bein. Die Ansteuerung kann auch wechselseitig in einer Übung erfolgen, in dem ein über den anderen Schritt mal mit dem einen, mal dem anderen Bein die greifend scharrende Beinbewegung betont wird. Dies kann wiederum mit räumlichen Hilfen (z. B. Brettchen) realisiert werden, das birgt den Vorteil eines höheren Aufforderungscharakters, aber auch den Nachteil, dass die Schrittlängen vorgegeben und dadurch Einschränkungen in der Dynamik möglich sind. Eine komplementäre Aufgabenstellung ist das Betonen der Anfers-Kniehubbewegung während eines Koordinationslaufes bzw. submaximalen Sprints jeweils auf dem linken oder rechten Bein. Damit wird das schnelle Vorhochschwingen des Beines geschult. Dieses Element kann auch seltener, also auf jedem dritten, vierten oder fünften Schritt (bei ungerader Schrittzahl jeweils mit wechselnden Beinen) bei dann höheren Geschwindigkeiten eingesetzt werden.
9. Hürdensprint und -koordination
Eine besondere Form der Rhythmusschulung für den Sprinter sind die Hürdensprints, die auch von Para Athleten zur Schnelligkeitsentwicklung genutzt werden. Die Hürdenpassage ist eine weitergehende, anspruchsvolle Bewegungsaufgabe, die als Hürdenballett erarbeitet und mit dem Sprinten verbunden werden muss. Indem mehrere, aufeinanderfolgende Hürden überquert werden, ergibt sich eine zusätzliche Rhythmusaufgabe mit den beiden Elementen Hürdenüberquerung und Zwischenhürdenlauf. Damit die Zeit minimiert wird, muss dies alles bei hoher Geschwindigkeit erfolgen, was eine Optimierung und Automatisierung der Bewegungen nach sich zieht (siehe dazu Kapitel 6).
Abb. 5.38 Übungen des Hürdenballetts sind sehr geeignete Trainingsmittel für Sprinter mit unterschiedlichen Arten von Behinderungen
Um den Schnelligkeitsaspekt herauszuarbeiten, können je nach technisch-konditionellem Vermögen der Sportler verschiedene Vereinfachungen vorgenommen werden: die Hürdenhöhen verringert, die Hürden durch einfache, ungefährliche Konstruktionen (z. B. aufgelegte Brettchen) ersetzt und die Hürdenabstände verkürzt oder variabel gewählt werden. Dadurch kann sich der Sportler auf die einzelne Bewegungs- und Rhythmusaufgaben bei hoher Frequenz konzentrieren. Die Streckenlängen sind beim Hürdenlauf ähnlich den Flachstrecken. Vergrößert man nach einigen Durchgängen die Abstände, steigen bei gegebener Hürdenzahl die Streckenlänge und die Geschwindigkeit, dann sollten auch die Erholungspausen größer werden.
Abb. 5.39 Hürdensprint über niedrige Hürden, evtl. verkürzte Abstände
10. Abschließende Koordinationsläufe
Viele der vorgenannten Übungen schulen Bewegungsdetails, die es am Ende des Trainings jeweils im komplexen Bewegungsablauf zusammenzufügen gilt. Hier eignen sich wiederum Koordinationsläufe bei submaximalen, hohen Geschwindigkeiten, die einerseits dem freien Sprint sehr nahekommen, andererseits aber noch Aufmerksamkeit für das zuvor erarbeitete, jetzt einzuarbeitende Bewegungselement lassen. Zwei bis vier Läufe über 50-80 m sind durchaus hinreichend, eine erste Erfahrung mit der neu gewonnenen Fertigkeit zu gewinnen.
Tab. 5.7 Trainingsmittel für die Sprintausbildung in Abhängigkeit von der Entwicklungsstufe